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Die Stimmen des Flusses

Die Stimmen des Flusses

Titel: Die Stimmen des Flusses Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jaume Cabré
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war’s. Zwar hatte er sie fast von Anfang an duzen dürfen, aber nur, wenn sie alleine waren. Trotz allem war er für sie Gasull. Und wenn sie ihn jetzt in das ruhige Wohnzimmer von Casa Gravat gerufen hatte, so, um ihmzu sagen: »Gasull, nicht einmal der beste Rechtsanwalt der Welt – und das bist du – wird verhindern können, daß ich vielleicht nicht mehr die Olympischen Spiele von Albertville werde sehen können, geschweige denn die von Barcelona.« Er erschrak, weil er dachte, sie wolle ihm mitteilen, daß sie im Sterben lag, und als sie ihm sagte, »Nein, es sind die Augen, der Diabetes, weißt du?«, atmete er erleichtert auf und wußte nicht, was er sagen sollte, und so blieb er stumm. Ein Hoffnungsflämmchen sagte ihm, dies sei vielleicht das erste Mal, daß Elisenda ihn gerufen habe, um ihm etwas Persönliches mitzuteilen, und daß sie vielleicht darauf hoffte, er möge ihr menschliche Wärme bieten. Doch als er gerade zur Tat schreiten wollte, hatte sie sich schon wieder gefangen, und Gasull mußte einsehen, daß Elisenda keineswegs menschliche Wärme suchte, sondern ihre zukünftige, unzweifelhafte Blindheit bereits unter Hindernisse und Probleme in den Geschäftsbüchern verbucht hatte. Wie stellen wir es an, daß ich weiterhin die Kontrolle über alles behalte? war im wesentlichen ihre Frage. Er hätte sich eine Frage gewünscht wie »Romà, liebst du mich?« Dann hätte er erwidert, ja, Elisenda, meine Liebste, ich liebe dich, auch wenn du in deinem Leben, soviel ich weiß, drei seltsame, unerklärliche Dinge getan hast. Zuerst hast du diesen Schürzenjäger und Taugenichts Santiago Vilabrú geheiratet, der dich nie geliebt hat. Warum, Elisenda? Sicher gab es nichts, was dich je mit diesem Halunken verbunden hat. Zweitens, Elisenda, meine liebste Blinde, verstehe ich nicht, wieso du hinter der Seligsprechung des Lehrers von Torena her bist. Nun gut, vielleicht hat er sie verdient, wie du sagst: Ich habe ihn nie kennengelernt.Aber sieh mal, das dauert jetzt schon Jahre, du hast ein Vermögen dafür ausgegeben, und jedesmal, wenn ich andeute, du solltest es dir noch einmal überlegen, wechselst du das Thema. Würde ich dein kaltes Herz nicht kennen, so würde ich denken, du warst in ihn verliebt. Und das dritte … die Leute sagen, du hättest jahrelang ein Verhältnis mit einem wesentlich jüngeren Mann gehabt. Wie schaffst du es nur,mir Dinge zu verheimlichen, von denen du nicht willst, daß ich sie erfahre? Es heißt, es sei ein Skilehrer gewesen. Das glaube ich nicht: Dazu bist du zu sehr Dame. Aber manchmal höre ich eine feine Stimme, vor allem im Traum, die mir sagt, Romà, diese Frau kann nicht immer nur an die Arbeit denken, wenn sie alleine ist. Ich weiß es nicht.Aber sie fragte nicht, »Liebst du mich, Romà?«, sondern bat ihn, ihr gegenüber Platz zu nehmen und sagte: »Na los, erzähl schon, was Marcel angestellt hat.«
    Und der treue Romà Gasull berichtete ihr vom Verrat ihres Sohnes, seinem versuchten Staatsstreich, den er damit begründet hatte, daß Mamà ziemlich gaga sei …
    »Das hat er gesagt? Ziemlich gaga?«
    »Hör mal, Elisenda, ich weiß nicht, ob …«
    »Hat er das nun gesagt oder nicht?«
    »Na schön, er hat es gesagt. Aber ist es nicht wichtiger, was er …«
    »Ich weiß, was wichtig ist und was nicht«, unterbrach sie ihn. »Schließlich ist er mein Sohn.«
    »Er hat gesagt, daß du schon fünfundsiebzig bist und dich zur Ruhe setzen solltest. Und daß er über vierzig ist, ›und es geht mir mit jedem Tag mehr auf die Nerven, wegen allem um Erlaubnis fragen zu müssen, als wäre ich nicht der Boß‹.«
    »Du bist nicht der Boß, Marcel.« Gasull war zutiefst beunruhigt, er stand im Kreuzfeuer zwischen zwei gegensätzlichen und einander ausschließenden Loyalitäten.
    Kurz gesagt hatte er mit notarieller Unterstützung technisch einwandfreie rechtliche Verfahren ausgeheckt und war dabei, sie zu perfektionieren. Sie sahen vor, daß Senyora Elisenda zugunsten ihres rechtmäßigen Erben alles aufgab: Familienbesitz, Unternehmen und Familie.
    »Warum?«
    »Weil sie langsam kindisch und verrückt wird. Noch dazu wird sie bald blind sein. Und ich will nicht, daß die Kirche das auffrißt, was vom Vermögen noch übrig ist.«
    »Ihr seid unglaublich reich, Marcel.«
    »Wie viele Millionen hat sie für die Seligsprechung dieses dämlichen Lehrers ausgegeben?«
    »Unsummen.«
    »Siehst du?«
    »Aber deine Mutter besitzt Augenmaß. Sie weiß, wie weit man es treiben darf

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