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Die Stimmen des Flusses

Die Stimmen des Flusses

Titel: Die Stimmen des Flusses Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jaume Cabré
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Gewölbe, Linien, Blumenmuster und Rosetten, die kein Mensch mehr sehen wird, wenn sie erst einmal dort oben angebracht sind.« Er sah Tina ernst an. »Außer den Tauben, und die scheißen drauf.«
    Sie schwiegen. Serrallac spielte mit seinem leeren Glas und sagte: »Eines Tages hat uns Hochwürden Llebaria mit hinauf auf die Kathedrale genommen. Das hat mich sehr beeindruckt.«
    »Wer ist Hochwürden Llebaria?«
    »Der Studienleiter des Seminars. Ich weiß nicht, ob er noch am Leben ist.«
    »Er hat euch sicher gesagt, die Steinmetze hätten für Gott gearbeitet.«
    »Wahrscheinlich, das weiß ich nicht mehr. Aber es ist das gleiche wie mit Senyor Oriol.Wenn man es nicht liest …«
    Er schüttelte den Kopf. Tina verstaute die Papiere in der Mappe und ließ den Gummi schnalzen, zum Zeichen, daß ihr Besuch zu Ende war. Sie sagte Serrallac nicht, daß sie ihren Mann rausgeworfen hatte und sich nun bis elf Uhr die Zeit vertreiben mußte. Sie sagte nur, »Auf Wiedersehen«, und Serrallac erwiderte: »Ich will noch mehr von diesen Papieren sehen.«
    Nachdem sie Serrallacs Werkstatt verlassen hatte, trieb sie sich noch ein wenig herum, bis es elf Uhr war. Um sechs Minuten nach elf betrat sie die Wohnung und fand sie halb leer:Im Wohnzimmer fehlte die Hälfte der Bücher und seine Stereoanlage, seine Wäsche war aus dem Schrank verschwunden, der Schuhschrank war halb leer, und es gab keinen Abschiedsbrief, keine Rechtfertigung, keine Entschuldigung. Die Dunkelkammer im Gästeklo war unberührt. Nein. Es fehlte das Foto von Arnau, das sie mit Reißzwecken an die Pinnwand geheftet hatte. Das war egal, sie hatte das Negativ. Tina ging ins Wohnzimmer und setzte sich auf einen Stuhl, ganz vorne auf die Kante, als wäre sie in ihrem eigenen Hause zu Besuch. Doktor Schiwago auf dem Tisch kümmerte sich nicht weiter um sie; er war damit beschäftigt, sich die Pfote zu lecken.

61
    »Senyora Vilabrú, hier kann die Wissenschaft nichts mehr ausrichten.«
    »Aber ich habe immer gewissenhaft meine Medizin genommen, ich habe immer alle Ihre Ratschläge befolgt …«
    »Senyora … Auch die Wissenschaft hat ihre Grenzen. Heutzutage gibt es für die Augenkrankheit, an der Sie leiden, in einem Fall wie dem Ihren«, hier senkte Doktor Combalia die Stimme, als schämte er sich seiner Worte, »keine Heilung.«
    Als sie dies hörte, fühlte sie sich zutiefst betrogen. Von der Wissenschaft und von Gott, mit dem sie einen erbitterten Kampf führte, seit die Anarchisten aus Tremp in ihr Leben eingedrungen waren. Obwohl die ewige Finsternis ihr Furcht einflößte, beklagte sie sich nicht, weil sie Gott diesen Triumph nicht gönnte. Auch vor dem Arzt wollte sie sich nicht wehleidig zeigen, und so schwieg sie, entschlossen, die Dunkelheit mit Würde zu akzeptieren. Die Welt war voller Blinder.
    Als sie an ihrem fünfundsiebzigsten Geburtstag erwacht war, war etwas mit ihren Augen nicht in Ordnung gewesen; es war, als wollte das angekündigte Leiden sich zu einem festen Datum einstellen. Sie hatte stundenlang telefoniert und versucht, so zu tun, als wäre nichts geschehen, bis sie am Nachmittag beschloß, es sei an der Zeit, sich zu beunruhigen.
    »Nein, nein, ich möchte mit Doktor Combalia persönlich sprechen.«
    »Senyora, der Herr Doktor kann nicht …«
    »Sagen Sie ihm, Senyora Elisenda Vilabrú ist am Apparat.«
    Man hörte respektvolles Schweigen und zweifelndes Summen. Nach genau zweiundzwanzig Sekunden sagte DoktorCombalia: »Was kann ich für Sie tun, gnädige Frau?« Am liebsten hätte sie ihm gesagt, ich habe Angst vor der Dunkelheit, große Angst, denn wenn man immer im Dunkeln ist, ist man immer bei sich selbst, denkt immer an sich, als wäre man ein Spiegel seiner selbst, würde immer über sich urteilen, und ich weiß nicht, ob ein Mensch das ertragen kann, Doktor. Und beinahe hätte sie auch gesagt, ich hasse die Dunkelheit, weil ich in ihr die Kontrolle verliere, weil sich jemand von hinten an mich heranschleichen kann, weil die Erinnerungen zu deutlich sein werden und ich den Kummer nicht ertragen werde, weil ich die Augen nicht mehr werde zumachen können, um im Dunkeln zu sein.
    »Ich werde blind.«
    »Was haben Sie bemerkt?«
    »Ich weiß es nicht. Alles blendet mich, ich kann nicht mehr scharf sehen, ich habe Flecken vor den Augen …«
    Es war das erste Mal, daß Doktor Combalia Senyora Vilabrú ein wenig fassungslos erlebte.
    »So plötzlich?«
    »Kann ich jetzt kommen?«
    »Nun … Wieviel Uhr ist es?«
    »Ich bin nicht

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