Die Stimmen des Flusses
Erdgräbern.«
»Im Norden gibt es immer mehr Nischengräber. Und ich fertige auch dafür Platten an. Die sind feiner, aus poliertem schwarzem Marmor.« Er schwieg, dann fragte er: »Wann kommt das Buch heraus?«
»Ich hoffe, es erscheint, bevor … nun, vorher eben.«
»Du bist voller Geheimnisse.«
Ich bin einsam, weil ich niemanden habe, mit dem ich über meine Angst reden kann, wieder zum Arzt zu gehen, über Arnaus höfliche Distanz, über Jordis Verrat. Ich habe keine Freundinnen, so einfach ist das. Und vor mir sitzt der einzige Mensch, der mich nach den Schattenseiten meines Lebens fragt: ein Steinmetz, der nur noch gelegentlich arbeitet, der die Häuser der halben Region gedeckt und Berichte über Leben und Tod in den Stein gemeißelt hat.
»Jeder hat Geheimnisse. Mach dir keine Sorgen.«
»Und ob ich mir Sorgen mache. Eine junge Frau wie du sollte … Ich weiß nicht. Ich … weißt du?«
Bevor er etwas Unpassendes sagen konnte, was sie beide in Verlegenheit gebracht hätte, unterbrach ihn Tina: »Wenn das Buch erscheint, schenke ich dir ein Exemplar.«
»Dann schenke ich dir einen Grabstein«, entgegnete Serrallac.
Beide lachten laut, ich war halbtot vor Angst über diesen Scherz, und Rendé hinter der Theke dachte, sieh mal an, Jaume macht sich an die pummelige Lehrerin heran.
63
Sobald die Geschichte ins Detail geht, verliert sie an epischem Schwung. Und da ich die Geschichte, die mein Schicksal ist, von innen heraus und aus nächster Nähe erlebe, kann ich nicht anders, als all diese Details zu sehen. Es ist zum Lachen, meine Tochter, ich fürchte, ein Kaffee mit Schuß wird mich das Leben kosten. Heute morgen habe ich vor Schulbeginn bei Marés vorbeigesehen, wie ich es immer mache, wenn die Kälte einsetzt. Und der Witz, oder besser gesagt, die Tragik daran ist, daß ich aus Bequemlichkeit zu lange gezögert habe. Es war kalt, und ein lästiger Wind, der die ganze Nacht über geheult hatte, verlockte dazu, zu Hause zu bleiben.Aber dann habe ich die Trägheit abgeschüttelt (ich würde Dir raten, das immer zu tun) und bin zu Marés gegangen.
»Ich hab die Schnauze voll von diesem verdammten Bergwind«, verkündete Modest, als er ihm an der Theke den Kaffee mit Schuß servierte. Oriol erwiderte nichts. Er sah nach draußen. Ein paar Schulkinder mit dem Ranzen auf dem Rücken kämpften gegen den Wind an, und er dachte, ich sollte mich beeilen, denn er ließ die Kleinen nicht gern allein in der Schule. Er trank den ersten Schluck und spürte, wie seine Lebensgeister erwachten, und als er den zweiten und letzten Schluck trinken wollte, verdunkelte ein Schatten die Eingangstür. Er spähte hinaus. Bürgermeister Targa betrat das Lokal mit einem Koffer in der Hand, zufriedener Miene und einer Frau an seiner Seite. Oriol, der die Tasse noch in der Hand hielt, bedeckte instinktiv sein Gesicht und wandte sich ab.
»Die Dame wird ein paar Tage bleiben, Modest.« Er wandte sich an die Dame: »Das ist der Kamerad, von dem ich dir erzählt habe.«
Er trat auf Oriol zu, der den zweiten Schluck getrunken und das Glas auf die Marmorplatte gestellt hatte.
»Kamerad Fontelles, ich möchte dir Isabel vorstellen.«
Oriol mußte sich umdrehen und lächelte freundlich, von Panik erfüllt. Er sah die Zuckerpuppe an, die er zuletzt im Restaurant Estació de Vilanova gesehen hatte, als sie ihn angeblickt hatte und seine Hand wie von selbst zu zittern begann, weil töten nicht so einfach war, wie er gedacht hatte, vor allem, wenn man den Namen seines Opfers kannte; vor allem, wenn man den haßte, den man töten wollte, aber noch nicht gelernt hatte, ihn zu verachten. Und seine Hand zitterte so lächerlich stark, daß einige Gäste vom Nebentisch herübersahen und er die Pistole mit beiden Händen greifen mußte, während Senyor Valentí sich über den Tisch beugte, so daß er seinen Nacken noch besser darbot, und gerade mit samtweicher Stimme sagen wollte, du bist phantastisch, wenn wir mit dem Essen fertig sind, legen wir wieder los, aber er hielt gleich zu Beginn des Satzes inne, weil er sah, wie die Zuckerpuppe den Mund aufriß und ihm über die Schulter blickte.
Die Frau erwiderte Oriols Lächeln, und in dem Augenblick, in dem sie sich die Hand gaben, merkte Oriol daran, wie ihr der Mund offenstand und ihre Nasenflügel sich weiteten, daran, wie ihre Hand aus der seinen glitt und sie einen Moment lang verstohlen zu Valentí herübersah, daß sie ihn entweder erkannt hatte oder kurz davor stand.
»Sehr
Weitere Kostenlose Bücher