Die Stimmen des Flusses
rief: »Oriol, Oriol, wie konntest du nur so schlecht sein, du warst doch meine ganze Welt.«
»Hier, mein Kind … ein Kräutertee.«
»Ich habe gesagt, ich will meine Ruhe haben.«
Das arme Kind.Was kann ich bloß machen, was kann ich ihr sagen? Könnte ich sie doch bloß noch in meinen Armen wiegen und ihr das Lied von der Fee von Baiasca oder der großen Kuh von Arestui singen, aber das Kind läßt sich nicht länger in meinen Armen wiegen. Wie schmerzt mich doch ihr Schmerz.
Es kam die Stunde der kalten Halbschatten, und während die Kinder kreischend von der Schule nach Hause stürmten, wo das Brot mit Olivenöl auf sie wartete, hatte sich im Vall d’Aran eine feste Frontlinie gebildet, und die franquistischenTelefone klingelten unermüdlich um Hilfe. Seine letzte Mahlzeit bereitete er wie alle anderen in dem Kämmerchen in der Schule zu. Sie bestand aus den Resten des Eingemachten, das ihm zwei Tage zuvor die Báscones gebracht hatte, ganz versessen darauf, einen Patrioten zu verköstigen. Er streckte es, indem er Kartoffeln dazu kochte, aß es mit ein wenig Brot und trank einen Schluck Wein dazu. Dabei mußte er an seine Frauen denken, an Rosa, seine namenlose Tochter und Elisenda, die fassungslos vor seiner Pistole gestanden und ihn offenbar nicht verraten hatte. Ihm fiel auf, daß die Stille draußen dichter war als gewöhnlich. Aber noch seltsamer war, daß Targa still blieb, daß er noch nicht gekommen war, um ihm ins Gesicht zu schleudern, du wolltest mich umbringen, das warst du, du Mörderschwein, meine Zuckerpuppe hat mir erzählt, daß sie die Angst in deinen Augen gesehen hat. Warum? Bist du nicht mein Kamerad? Und Claudio Asín? Und der Caudillo, verdammt noch mal?
Er hörte eilige, aber unsichere Schritte, und plötzlich stand Jaumet, der immer rannte, als befürchte er, etwas zu versäumen, vor ihm und starrte auf das Essen, um ihm nicht in die Augen sehen zu müssen. Er keuchte und schwieg.
»Was willst du, Jaumet?«
»Er hat gesagt, ein gewisser Ossian erwartet Sie in der Kirche.«
»Wer?«
»Ossian.«
»Wer hat dir das gesagt?«
»Er hat gesagt, das darf ich Ihnen nicht sagen, er wär ein Freund.«
In einer halben Stunde mußte er wieder funken, und wenn er schon sterben mußte, wollte er die Schule nicht verlassen.
»Und wo ist der Herr Pfarrer?«
»Der ist in La Seu. Ich soll ihnen jedenfalls sagen, es sind ein paar Freunde.«
»Du darfst niemandem davon erzählen. Niemals.«
»Nein, Herr Lehrer.«
»Möchtest du etwas davon?«
Jaumet Serrallac sah den Teller des Lehrers begehrlich an, sagte aber, »Nein, danke«, und lief nach Hause. Er wußte nicht, daß er der Bote des Todes gewesen war.
Als Oriol wieder allein war, dachte er an Ventura; vielleicht bereitete der einen Sturm auf das Rathaus vor. Mein Gott, wenn sie das tun, kann ich mich vielleicht noch retten. Er schob den Teller zur Seite. Einen Moment lang war er erleichtert; er dachte nicht daran, daß er nur mit Valentí über Ossian gesprochen hatte. Er zog den Mantel über, und als er durchs Klassenzimmer ging, sah er die Tafel und dachte, werde ein anständiger Mensch, meine Tochter. Als er aus dem Schulgebäude trat, fühlte er etwas in den Manteltaschen: Es waren die beiden Bücher, die Elisenda ihm angeblich zurückgegeben hatte.Trotz allem mußte er lächeln.
»Jetzt hätte ich gerne einen Kräutertee, Bibiana.«
Oriol wandte sich noch einmal zur Schule um, und ein Schauer überlief ihn, weil er an derselben Stelle stand, von der aus Rosa und er das Gebäude zum ersten Mal gesehen hatten. Auch Aquil·les hatte von hier aus zu ihm hinübergesehen, als er nach ein paar Tagen, in denen er sich ausgeruht hatte und die Wunden an seinen Pfoten verheilt waren, beschlossen hatte, auf der unsichtbaren Spur von Yves und Fabrice hechelnd seine aussichtslose Reise nach Norden fortzusetzen. Oriol hatte das Herz geblutet. Er vermied es, am Rathaus vorbeizugehen.
»Und ein Gläschen Cognac.«
»Aber Kind, du …«
»Cognac, Bibiana.«
Die Tür zur Kirche von Sant Pere von Torena war angelehnt.Vorsichtig stieß er sie auf. Drinnen war es dunkel. Ein Schwall kühler, feuchter Luft schlug ihm entgegen. Ein beinahe unhörbares metallisches Klicken. Über dem Altar ging eine Glühbirne an.
Als er feststellte, daß ihn nicht Ventura mit den kohlschwarzen Augen und seine Maquisards erwarteten, sondernBürgermeister Targa und seine Falangisten, war es bereits zu spät.
»Hallo, Kamerad.«
Adieu, dachte er. Adieu, meine
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