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Die Stimmen des Flusses

Die Stimmen des Flusses

Titel: Die Stimmen des Flusses Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jaume Cabré
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wollte, und für nichts anderes Augen und Ohren hatte. Vielleicht war sie verliebt. Den ganzen Morgen über hatte er auf Targas letzten Besuch gewartet, der nicht kam, hatte sein Verlangen unterdrückt, in die Berge zu fliehen, weil Jott-fünf um sieben Uhr wieder auf Sendung gehen mußte, und weil sie ihm gesagt hatten, er sei für die Verbindung zwischen den beiden Brigaden beiderseits des Montsent verantwortlich. Er fühlte sich matt, nicht nur vor Angst, sondern auch, weil er die ganze Nacht die Verbindung zwischen den beiden Brigaden aufrechterhalten hatte, die im Dunkeln auf València d’Àneu und Esterri vorrückten, während der Haupttrupp sich im Vall d’Aran sammelte. Und nun, am späten Vormittag, schwieg das Funkgerät, und er strich, halbtot vor Müdigkeit, Rechtschreibfehler an, jetzt die von Jaumet Serrallac. Es waren nur wenige, denn trotz seiner nur mühsam kaschierten Distanziertheit war der Junge so wissensdurstig, daß er sich sogar vom Lehrer helfen ließ. Während er einen überflüssigen Akzent strich, erreichte die Vierhundertzehnte Brigade in eisiger Kälte und schneidendem Wind Bòrdes, und die Elfte Brigade scheiterte bei ihrem Versuch, den Nordausgang des Tunnels von Viella zu besetzen, denn wir sind nicht gekommen, o Herr, um gegen die Elemente zu kämpfen, sondern gegen die franquistische Armee. Aber die Fünfhunderteinundfünfzigste, die über Canejan einmarschiert war, besetzte das Tal von Toran und marschierte über die Geröllhalde von La Garona der Freiheit entgegen.
    »Gar nicht wird gar nicht zusammengeschrieben, Jaumet.«
    »Stimmt.«
    Am Mittag unterrichtete der Bürgermeister dieschweigenden Gäste bei Marés über den Stand der Dinge und sagte: »Den ersten verdammten Guerrillero, der sich hier blicken läßt, hänge ich an den Eiern auf.« Die Zuckerpuppe wartete, bis Targa mit seiner Rede fertig war und sich auf seine Linsen konzentrierte, dann berichtete sie ihm im Flüsterton von ihren Ängsten und Gewißheiten. »Deshalb bin ich so nervös.«
    »Bist du sicher?«
    »Wenn er es nicht ist, sieht er ihm jedenfalls zum Verwechseln ähnlich, das schwöre ich dir.«
    Weiber. Die können doch nicht mal einen Hammel von einem Widder unterscheiden, zum Teufel.
    »Was du da sagst, ist eine schwere Anschuldigung.«
    »Glaubst du vielleicht, ich würde mir so was ausdenken, Schatz?«
    Bis sieben Uhr abends würde er nicht ans Funkgerät zurück müssen – wenn sein Tag überhaupt einen Abend hatte. Leutnant Marcó und seine Männer, die auf irgendeinem Bergkamm ihr Leben aufs Spiel setzten, hatten die Aufgabe, in sechs oder sieben verschiedenen Ortschaften weitab der Grenze Ärger zu machen, um das Chaos zu vergrößern und die Armee vom Bonaigua fernzuhalten. Und er korrigierte das Heft von Jaumet Serrallac. Er wußte, daß Ventura irgendwann auch in Torena vorbeikommen würde. Deshalb wurde er leichtsinnig, und als Große, Mittlere und Kleine in der Pause hinausgingen, weil die Kälte nachgelassen hatte, stieg er auf den Dachboden, schaltete das Funkgerät ein, suchte die Frequenz von Leutnant Marcó, sagte »Jott-fünf an Marcó, Jott-fünf an Marcó«, und hörte sie klar und deutlich, weil sie anscheinend nicht bei Sorpe waren, sondern näher bei ihm. Er sagte: »Der Wolf und die fünf Hyänen sind den ganzen Tag in ihrer Höhle, sie verbringen den Tag in ihrer Höhle«, dann brach er ab, schaltete das Gerät aus und verließ den Dachboden. Er kam gerade rechtzeitig, um Nando und Albert von den Batallas zu trennen, die sich um die Gültigkeit eines entscheidenden Tors prügelten.
    »Hej du, Lausebengel, komm mal her.Wie heißt du?«
    »Jaumet.«
    »Zu wem gehörst du?«
    »Zu den Serrallacs.«
    »Dem Steinmetz?«
    »Ja, Senyor.«
    Bibiana räumte in der Küche Gläser mit Konfitüre ein, putzte das Messing am Herd blank und dachte, was ist bloß los, da ist was Schlimmes passiert, ihr Kummer ist schwer wie Stein, er wird sie noch umbringen. Sie ist aufgebracht, sie hadert mit Gott, und ich weiß nicht, wie ich einen so großen Kummer lindern kann.
    Elisenda stand weinend im Wohnzimmer vor ihrem Porträt. Sie war versucht, hinauszulaufen, Oriol zu umarmen und vor den Feinden zu verbergen, die sie selbst auf ihn losgelassen hatte. Doch dann nahm sie das Bild ihres lächelnden Bruders und ihres strengen Vaters in die Hand, und da überkam sie wieder diese Wut, die ihr klarmachte, daß niemand sie hintergehen durfte. Und eine Minute später strömten ihre Tränen wieder, und sie

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