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Die Stimmen des Flusses

Die Stimmen des Flusses

Titel: Die Stimmen des Flusses Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jaume Cabré
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nicht gerade gesagt, alles wäre verjährt?«
    »Ja, aber ich werde Sie trotzdem reinreiten. Ich bin Journalistin«, sagte sie aufs Geratewohl. »Sie wissen ja, wie das läuft: ein Foto von Ihnen, eine Fernsehsendung, eine sensationslüsterne Moderatorin …«
    »Ich habe Befehle befolgt, und alles, was geschah, war notwendig.«
    »Das bezweifle ich nicht. Wie ist Oriol Fontelles gestorben?«
    »Wer?«
    »Der Lehrer von Torena.«
    Senyora Elisenda war schon vor fünf Minuten gegangen, aber der Duft ihres Parfüms hing noch immer in der Luft. Targa hatte sich nicht von seinem Stuhl gerührt; er dachte,das sagt sie, weil es im Bett nicht gut gelaufen ist. Er dachte, ich habe ihn auch überwachen lassen, und: Du Schweinehund, wenn sich rausstellt, daß du wirklich ein Verräter bist, reiße ich dich in Stücke, auch wenn ich danach Schwierigkeiten bekomme. Er hob den ungekämmten Kopf: »Was gibt’s?«
    Ein Telegramm. Ein Soldat hatte persönlich ein Telegramm für ihn abgegeben.Vom Generalstab. Geheim. »Gebt ihm bei Marés einen Kaffee aus.« Er riß das Telegramm auf, hungrig nach Lob, nach einer Belohnung, einer Liebkosung, einem »Ich liebe dich«, wenigstens eines, verdammt noch mal, egal von wem.
    VERTRAULICH STOP
BEZÜGLICH NACHFORSCHUNGEN OSSIAN EINZIGE SPUR SECHSTES JAHRHUNDERT SCHOTTLAND STOP DICHTER STOP KEINE UNMITTELBARE GEFAHR STOP
HERZLICHE GRÜSSE STOP VIVA FRANCO STOP VENANCIO STOP
    Keine unmittelbare Gefahr. »Balansó, Arcadio«, schrie er. Er befahl den beiden Männern, zur Schule zu gehen und alles zu durchsuchen, einschließlich des Dachbodens, jeden Zufluß und jedes Komma umzudrehen, und ihm dann Bericht zu erstatten. Aber noch bevor die Männer den Befehl befolgen konnten, begann das Telefon Sturm zu läuten. Torena, hier spricht Sort, Torena, meine Liebe, hörst du mich? Ja, Sort, sprich. Sag dem Bürgermeister, Hunderte von Maquisards sind überall in den Bergen, in Esterri,València, Isil, Alins, Escaló und angeblich vor allem in Baiasca. Heilige Mutter Gottes! Bist du sicher? Sort? Hörst du mich, meine Liebe? Ich habe gefragt, ob du sicher bist. Sort? Jetzt bin ich da,Torena, die Linien sind völlig überlastet, alle sind schrecklich nervös. Sie haben mir gesagt, du sollst dem Bürgermeister sagen Viva España. Also, hier ist alles ruhig. Einen Augenblick, Sort.Wasgibt’s, Esterri, meine Liebe? Nein! Wirklich? Wie furchtbar, Esterri. Sort, Esterri sagt, dort ist alles voller kommunistischer Soldaten. Und hier auch. Himmel hilf! Und du,Torena? Hier ist alles ruhig. Ich muß aufhängen,Torena. Auf Wiederhören, Sort. Auf Wiederhören,Torena, meine Liebe.
    »Ja, Herr Bürgermeister, das haben sie mir gesagt. Und viva España.«
    »Zum Teufel auch, laß sie nur kommen, wir werden sie gebührend empfangen, viva España, Cinteta. Und du bleibst in der Leitung.«
    »Ja, Herr Bürgermeister.«
    Balansó und Gómez Pié. Und der mit den buschigen Augenbrauen, wie heißt der noch mal, und drei weitere einsilbige Männer. Die Schule kann warten. Alle hatten den Telefonbericht gehört, alle trugen die Uniform der Falange und die Pistole im Halfter, alle warten ungeduldig darauf, daß sich in Torena der erste Bandit blicken ließ.
    »Ihr wißt Bescheid. Ich gehe mal schnell nach Hause, um mich zu rasieren. Jeder geht auf seinen Posten, und zieht euch warm an.«
    »Woher werden sie kommen?«
    »Vielleicht über den Weg von Espot. Wir müssen abwarten.«
    »Und wenn wir der Guardia Civil sagen, sie sollen …«
    »Die haben unten im Tal genug zu tun. Wir sind allein schon Manns genug.«
    Den ganzen Morgen über waren die Falangisten zwischen dem Rathaus und ihren Posten unterwegs, während Targa Cinteta auf Trab hielt. Er ließ sie nach Sort telefonieren, beobachtete die Berge, rauchte und wartete auf den Feind, der sich nicht blicken ließ. Schließlich ging er in der großen Pause an der Schule vorbei, ohne anzuhalten. Die Kinder waren wegen der Kälte dringeblieben, und der Lehrer erzählte ihnen eine Geschichte. Es kann nicht sein, dachte er. Bevor Kamerad Fontelles den Kopf heben und ihn sehen konnte, schnippte er die Zigarettenkippe weg, ging zu Marés,um zu Mittag zu essen und sich mit seiner Zuckerpuppe zu treffen, die seltsam bedrückt wirkte.
    Oriol dachte unablässig an den Vorabend und den Abend, der kommen würde, während er mit einem Rotstift das Diktat von Carme korrigierte, der Kleinen von den Cullerés, die seit Tagen nur davon redete, daß sie in Sort eine Schneiderlehre machen

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