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Die Stimmen des Flusses

Die Stimmen des Flusses

Titel: Die Stimmen des Flusses Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jaume Cabré
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ebenfalls. Ich schwöre Ihnen, ich war draußen und hab eine geraucht und habe nichts gesehen, deshalb können Sie mich auch nicht verklagen.«
    »Ich habe Ihnen doch schon gesagt, daß alles verjährt ist.« Tina zeigte flüchtig auf die Fotokopie mit der Förderung der Musik, Literatur und bildenden Kunst.
    Der Schuß und Elisendas Schrei waren kaum verklungen, da geschah plötzlich alles gleichzeitig.Wie von Targas Schuß ausgelöst, hörte man von Arbessé her Gewehre knattern, und Targa reagierte so schnell, als würde er noch immer für Caregue arbeiten, und lief mit seinen Männern hinaus. Einige Minuten lang herrschte völliges Durcheinander, die Maquisards drangen ins Rathaus ein, Leutnant Marcó lief durch alle Räume, riß wütend die Türen auf und schrie: »Wo hater sich versteckt, wo ist der verdammte Wolf mit seinen fünf Hyänen!« Dann rief er, »Raus hier, sicher haben sie uns gesehen, vielleicht ist es eine Falle«, aber sie konnten schon nicht mehr hinaus, weil der Trupp der Falangisten sie von draußen mit einem Kugelhagel empfing. Jetzt waren die Rollen vertauscht, der Maquis verteidigte das Rathaus, und die Falange griff es an.
    Elisenda Vilabrú saß auf dem Boden vor dem Altar, hielt Oriols halb aufgerichteten Körper in den Armen und hatte seinen zerschossenen Kopf an ihre Brust gelegt, die sich langsam rot färbte. Sie sah zum Altar, dann zu Oriol, umarmte ihn, unfähig, etwas zu sagen. Erst nach langer Zeit, als sie sich allein wähnte, sagte sie: »Oriol, das wollte ich nicht, Oriol, mein Geliebter, mein Leben, meine Seele …« Sie sah ihm ins Gesicht. Seine Augen standen offen, sein Blick wurde allmählich kalt und glasig, und sie drückte ihn an ihr Herz und dachte, mein Vater, mein Bruder und meine Liebe, mein Leben ist von Tod erfüllt, und diesmal bin ich schuld daran, ich schwöre dir, daß ich es wiedergutmachen werde. Mein Gott, wie ungerecht bist du, welch eine schreckliche Strafe erlegst du mir auf, ich bin doch deine treue Dienerin und eine Dienerin deiner Kirche.Wieder umarmte sie Oriol und sprach dann das Gebet, das sie von nun an immer sprechen würde: »Mach dich auf was gefaßt, Gott.«
    »Er ist tot, Senyora«, hörte sie hinter sich Jacintos Stimme. In diesem Augenblick kam Targas Trupp zurück.
    Andreu Balansó schenkte sich das Glas noch einmal halbvoll mit Weißwein, zufrieden darüber, daß ihn in diesem abgelegenen Restaurant niemand dafür tadelte, daß er sich Wein nachschenkte, was ja schließlich niemandem schadete.
    »Als wir in die Kirche zurückkamen, nachdem wir den Angriff des Maquis entschlossen abgewehrt hatten, war Senyora Elisenda noch da. Und ihr Chauffeur stand daneben. Wußten sie, daß die beiden was miteinander hatten?«
    »Wer?«
    »Der Chauffeur und Senyora Elisenda.«
    »Woher wissen Sie das?«
    »Jacinto und ich waren Freunde. Er hat es mir in allen Einzelheiten erzählt. Sie war ganz verrückt nach ihm und hat ihn auf Händen getragen. Und dabei war er ihr Chauffeur! Übrigens hat man mir erzählt, sein Tod wäre ein bißchen …«
    »Ein bißchen was?«
    »Ein bißchen Sie wissen schon.«
    »Was meinen Sie damit?«
    »Ich weiß nur, was erzählt wird.«
    Balansó nutzte die unbehagliche Stille, um noch ein Schlückchen zu trinken. Genau wie sein Kollege mit den inzwischen ergrauten Locken es vor Jacinto Mas getan hatte, schweigend, in einer dunklen Bar in Zuera am Fluß. Der Fluß hieß Gállego, aber das wußte er nicht, und es interessierte ihn auch nicht. Es war einer jener Flüsse, den die Kinder von Torena, die inzwischen schon selbst Eltern waren, auswendig gelernt und dann wieder vergessen hatten, weil das Wissen, daß der Gállego bei Saragossa in den Ebro mündet, ihnen im Leben nicht weiterhalf, und wie nennt man einen Fluß, der nicht ins Meer mündet, sondern in einen anderen Fluß?
    »Zufluß«, hatte Elvira Lluís geantwortet, siebeneinhalb Monate, bevor sie an Tuberkulose starb.
    »Sehr gut, Elvireta.«
    »Sehr gut, Arcadio. Warum bist du hier? Hat sie dich geschickt?«
    Arcadio Gómez Pié sah sich im Raum um. Er war vom Rauch einer Feuerstelle an der Wand geschwärzt. An der anderen Wand stand auf einem hohen Bord ein alter Fernseher mit einer unzulänglichen Antenne, in dem zum vierten- oder fünftenmal die prachtvollsten Augenblicke der Krönung des neuen Königs von Spanien gezeigt wurden. Unfaßbar: Da haben wir einen Krieg gewonnen und uns für ein Ideal die Hände dreckig gemacht, haben den Prinzipien des Movimiento

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