Die Stimmen des Flusses
sagen werde, daß ich das Glück hatte, immer zu wissen, daß sie Amèlia heißt, und daß ich zusehen durfte, wie sie heranwächst, zweifelt, Kinder bekommt und einen eigenen Kopf hat?
»Ich mach das schon, Amèlia.«
Siebter Teil
Die Stimmen des Pamano
… Das Haus ist still, das Haus ohne dich, meine Tochter.
Vicent Andrés Estellés
Nachdem alle Würdenträger und Ehrengäste vorbeigezogen sind, setzen sie sie für den endlos langen Korridor des Palazzo Apostolico in einen Rollstuhl, ungeachtet ihres Widerstands. »Mensch, Mamà, reg dich ab, es ist niemand hier außer uns.« Ein schweigsamer Sanitäter der Schweizergarden schiebt den Stuhl, und sie machen sich auf den Weg. Um sie herum erahnt Senyora Elisenda den schleppenden Gang Gasulls, Marcels schnelle, nervöse Schritte, das gereizte Absatzklappern von Mertxe und die katzenhafte Stille Sergis, der für die Zeremonie vielleicht nicht einmal Socken trägt. Ihre geliebte Familie, die sie höheren Zielen geopfert hat. »Ich weiß, wie weit ich gehen kann, Heiliger Vater.« »Aber meine Tochter, wenn ich dich richtig gehört habe, wenn ich verstanden habe, maßt du dir die Macht an, deine eigenen moralischen Maßstäbe zu setzen.« »Ja, weil ich weiß, daß ich sie richtig zu nutzen verstehe.«
»Mein Gehör ist nicht mehr das beste: Hast du wirklich gesagt, daß du über der Moral der anderen stehst?« »Ich weiß nicht mehr, ob ich das gesagt habe, Heiliger Vater, aber ich habe ein Sonderabkommen mit Gott.« »Das kann nicht sein, meine Tochter; hüte dich vor deinem Stolz.« »Ich möchte, daß Sie mir die Absolution erteilen.« »Alles, was du mir gesagt hast, meine Tochter, verlangt nach einem längeren Gespräch.« »Damit bin ich einverstanden, Heiliger Vater.« »Die Kirche ist – vergiß das nie – die Kirche der Demütigen.« »Und Escrivá, Heiliger Vater?« »Wie bitte?« »Escrivá: Ist er wirklich ein Heiliger oder nur ein Mächtiger, hinter dem noch mehr Macht steht?« »Wir müssen aufhören,meine Tochter, meine Ärzte werden mit mir schimpfen.« »Ich möchte, daß Sie persönlich mir die Absolution erteilen, Heiliger Vater.«
Der Korridor des Palazzo Apostolico nimmt und nimmt kein Ende. Mertxes Absätze klappern unverschämt laut, aber so ist sie nun einmal. Und dabei war sie anfangs so zurückhaltend. Ein Mann mit ausrasiertem Nacken und eisernem Griff hat Elisenda erbarmungslos fortgeführt, so daß sie nicht mehr sagen konnte: Ich tue Gutes, ich habe einen geradezu biblischen Gerechtigkeitssinn; jeder muß für das bezahlen, was er getan hat, Heiliger Vater, aber auch nur dafür, verstehen Sie? Ich handle nie aus materiellem Interesse oder Eigennutz, denn Gott sei Dank bin ich so reich, daß ich nicht nach Gewinn streben muß. Ich strebe nur nach Gerechtigkeit für die Meinen und kämpfe für das ewige Gedenken an den Mann, den ich wirklich geliebt habe. Und das habe ich erreicht, er ist seliggesprochen, und eines Tages wird er heiliggesprochen werden, und alle werden verstehen, daß mein Weg stets der beste ist. Oriol war ein guter Mensch, auch wenn einige jetzt versuchen, ihn mit üblen Verleumdungen über sein Leben in den Schmutz zu ziehen. Daß die Heilige Kirche einen Seligen mehr hat, ist gut. Und ich habe eines Tages gelobt, Oriol auf den Altar zu heben, und dieses Gelübde habe ich hiermit erfüllt. Sprechen Sie mich von allen meinen Sünden frei, Heiliger Vater. Sie höchstpersönlich, der Sie hier im Petersdom die Messe lesen. Sie, der Stellvertreter Gottes auf Erden.
»Halt! Nein! Tu’s nicht!« Wie jeden Tag betrat Elisenda die Kirche von Sant Pere, nahm im Eilschritt die drei Stufen, und wie jeden Tag kam sie zu spät, um eine Sekunde, und das war ihre ewige Hölle, und ich werde dir nie verzeihen, daß du dich so einfach hast erschießen lassen, ohne dich zu verteidigen. Niemals.
»Was hast du getan?« fuhr sie Valentí Targa an, der noch immer die rauchende Pistole in Händen hielt.
»Befehle befolgt«, erwiderte Targa stets, wischte denPistolengriff ab und sah sie mit einem neuen Haß in den Augen an.
Sie verlassen den Palazzo Apostolico durch das gleiche Tor, durch das sie hereingekommen sind, und die Limousine wartet schon auf dem Kopfsteinpflaster. Die Familie, in ihrer Mitte die schwarzgekleidete Dame im Rollstuhl, hält einen Augenblick lang auf dem obersten Treppenabsatz inne und sieht nach vorn, als erwarteten sie, daß jemand das Familienfoto macht, das sie sonst nie wieder werden machen können.
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