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Die Stimmen des Flusses

Die Stimmen des Flusses

Titel: Die Stimmen des Flusses Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jaume Cabré
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nebenan.«
    »Wahrscheinlich.«
    Unsicher trugen sie ihr Gepäck zu dem kleinen Schulgebäude hinüber, hinter dem das Dorf endete und Felder und Wiesen begannen. Zu dieser Zeit wußte Valentí Targa im Rathaus bereits, daß der Mann der neue Lehrer war und das Haus suchte. Er zog an seiner Zigarette, stieß den Rauch aus und dachte sich, irgendwann wird er sich schon hier blicken lassen.
    Die Unterkunft des Lehrers erwies sich als kleine Wohnung, weit weg von der Schule am anderen Ende des Platzes. Sie hatte winzige Fenster, so daß es drinnen dunkel und feucht war, und die Einrichtung bestand aus einem Bett, einem Spiegelschrank, einem Spülbecken für die irdenen Teller, die Rosa im Korb trug, und zwei Fünfundzwanzig-Watt-Glühbirnen. Ein trauriger, armseliger Ort.
    »Ich habe dir ja gesagt, du solltest nicht mitkommen«, sagte Oriol, »bis ich …«
    »Warum hätte ich dich allein lassen sollen?«
    Rosa sah sich in der kleinen Wohnung um. Sie trat auf ihren Mann zu und küßte ihn, erschöpft von Reise und Schwangerschaft, sanft auf die Wange.
    »Immerhin haben wir Arbeit.«
    Immerhin hatten sie Arbeit, auch wenn sie dazu ans Ende der Welt hatten gehen müssen. Anfangs hatte man ihnen gesagt, die ehemaligen Kämpfer hätten Vorrang. Aber die siegreichen ehemaligen Kämpfer hatten keine Lust, ans Ende der Welt zu gehen,und schlugen sich weiter, diesmal um die Posten in der Stadt, wobei sie ihre unverbrüchliche Treue zum neuen Regime zur Schau stellten. Die Lehrerstelle in Torena war frei, weil niemand wußte, wo Torena lag. Es hieß, in der zwanzigbändigen Enzyklopädie im Gemeindehaus von Santa Madrona von Poble-sec könne man alles finden, und so zogen Oriol Fontelles und seine Frau sie erwartungsvollzu Rate. Sie hofften, etwas über das Dorf zu erfahren, in das es sie verschlagen hatte, als sie sich schon damit abgefunden hatten, daß Oriol niemals eine Anstellung finden würde, weil ein Magengeschwür ihn am Militärdienst gehindert und davor bewahrt hatte, sich im Krieg auf eine Seite schlagen zu müssen. In der Enzyklopädie stand: Torena ist ein beschauliches Dorf in der Nähe von Sort im Regierungsbezirk Pallars Sobirà mit dreihundertneunundfünfzig Einwohnern (von denen mehr als zwanzig ins Exil gegangen und dreiunddreißig in den letzten Jahren gewaltsam ums Leben gekommen waren: zwei bei Ausbruch des faschistischen Aufstands, die anderen während des Krieges. Und bald würde der Krieg vier weitere Dorfbewohner das Leben kosten, auch wenn sie es noch nicht wußten und sie in keiner Statistik auftauchten). Angebaut werden überwiegend Kartoffeln, Weizen für den Eigenbedarf, Roggen und Gerste. Am Hang von Sebastià (wo einige der Bluttaten stattfinden würden) wachsen ein paar Apfelbäume, an sonnigen Ackerrändern Kohlköpfe und ein paar Reihen Spinat. Die zahlreichen natürlichen Weiden bieten Platz für große Rinder- und Schafherden. Das Dorf liegt auf einer Höhe von eintausendvierhundertacht Metern über dem Meeresspiegel (und es ist lausig kalt, sogar im Sommer muß man einen Pullover tragen). Es gibt eine Kirche, die dem heiligen Petrus geweiht ist, und eine Schule, in der die vierzig Kinder des Dorfes und der umliegenden Höfe unterrichtet werden (außer Tudonet von den Farinós, der geistig und körperlich zurückgeblieben ist und den seine Familie versteckt hält).
    »Ein friedliches Plätzchen«, sagte Oriol und schlug die Enzyklopädie zu. »Das wird deinen Lungen guttun.«
    Ein paar Tage nachdem sie die Entscheidung getroffen hatten, setzte er sich in den Kopf, es wäre besser, wenn sie bis zur Geburt des Kindes in Barcelona bliebe, da oben war es bitter kalt, und das war nichts für sie. Doch Rosa stellte sich quer. Sie sagte, wo er hingehe, da wolle auch sie hingehen, und wenn sie das Kind in den Bergen zur Welt bringenmüsse, dann werde sie das eben tun, wie alle Frauen aus Torena, und damit Schluß. Und damit war Schluß.
    Und jetzt waren sie an dem friedlichen, kalten Plätzchen angelangt. Er trug einen Stapel Bücher und betrachtete den Strohsack, der ihnen als Matratze dienen sollte, und die Wände, die der jahrelange Gebrauch des Holzofens milchkaffeebraun gefärbt hatte.
    »Ist es nicht wunderbar still hier?« sagte Rosa, das Taschentuch an den Mund gepreßt, und mußte husten.
    »Ja«, seufzte er. »Wunderbar still.«
    Er legte die Bücher auf dem Bett ab und versuchte, den Holzofen in Gang zu setzen. Draußen erklang Motorenlärm. Durch das winzige Fenster sahen sie, wie

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