Die Stimmen des Flusses
euer Sohn, nicht sie.«
»Wann gehst du, hast du gesagt?«
Auch wenn es sie wütend machte, dachte Tina schon seit einer Weile darüber nach, was wohl ein Sohn mitnehmen mußte, der ins Kloster ging, wieviel Wäsche, wie viele Hemden und Unterhosen, wirst du vom ersten Tag eine Soutane tragen oder wie immer das heißt, und in einem so ungemütlichen, zugigen Gebäude wirst du bestimmt ständig erkältet sein; warme T-Shirts, und vielleicht sollte ich dir noch heimlich ein Buch dazustecken, damit du dich nicht langweilst, oder eine Salami, falls dir das Essen im Kloster nicht schmeckt, und müssen wir dich Hochwürden nennen oder Don oder Pater oder einfach nur Arnau. Wenn sie bloß nicht deinen Namen ändern, mein Sohn, den haben wir dir fürs ganze Leben gegeben. Und wann können wir dich sehen, Arnau, mein Kind?
10
Fein geschwungene Lippen von einem dunklen Rosa. Ganz leicht, kaum andeutungsweise hervorstehende Wangenknochen. Das ovale Gesicht, beherrscht von den Augen, in denen so viel Geschichte lag, daß es unmöglich war, sie zu ergründen. Mit ihnen würde er sich später beschäftigen. Das Haar …
»Du solltest dein Haar immer gleich tragen.«
»Ja natürlich, das hatte ich nicht bedacht. Sehe ich so gut aus?«
Noch nie hat er eine überflüssigere Frage gehört.
»Hauptsache, du fühlst dich wohl … Aber trag bei der nächsten Sitzung das Haar wieder genauso.«
»Worüber reden wir heute?«
»Ich rede gar nicht, ich muß mich konzentrieren. Erzähl du mir was. Aus deiner Kindheit.«
Ich war ein ziemlich unglückliches kleines Mädchen, weil Mamà von zu Hause fortgegangen war und ich nicht wußte, warum, bis mein Bruder mir erklärte – du mußt schwören, daß du es nicht weitersagst, sonst bringe ich dich um –, daß Mamà mit einem Mann durchgebrannt war. Und was heißt das, Josep? Das heißt, daß wir sie nie wiedersehen werden, und deshalb ist Papà immer so miesepetrig. Was heißt miesepetrig? Das weiß ich nicht genau, aber wenn du es jemandem sagst, bringe ich dich um, oder Papà tut es. Da, küß das Kreuz und schwöre, daß du es niemandem sagst. Und Elisenda küßte das Kreuz und sagte, Ich schwöre, daß ich zu niemandem miesepetrig sagen werde. Nein, das andere Geheimnis meine ich, das mit Mamà. Und Elisenda küßte das Kreuz noch einmal und sagte, Ich schwöre, daß ich niemandem erzählen werde, daß Mamà mit einem Manndurchgebrannt ist. Und dann hatte sie lange geweint, weil sie Mamà wohl nie wiedersehen würde. Da sie das alles aber schlecht einem Maler erzählen konnte, den sie kaum kannte, schwieg sie und starrte vor sich hin, versuchte, das Gesicht ihrer Mutter heraufzubeschwören, aber das alles war lange her, und aus den nebelhaften Erinnerungen tauchten nur eine dunkle Mähne, ein nadelspitzer Blick und ungeduldige Hände auf. Ich weiß nicht einmal, ob sie noch lebt, und will es auch gar nicht wissen. Alles war unbestimmt und bittersüß, wie wenn man Mamà sagt und niemand antwortet, was ist, mein Kind?
Eine halbe Stunde lang schwiegen Maler wie Modell. Sie stellten fest, daß sie sich wohl fühlten, schweigend in Gegenwart des anderen. Sie mußten die Stille nicht mit verlegenen Worten füllen. Es war angenehmer, zu schweigen, jeder in seine eigenen Gedanken versunken. Sie dachte noch immer an ihre ferne Mutter, er erinnerte sich an den Tag, an dem sie angekommen waren. Rosa, deren Rundung kaum zu sehen war, hatte mit dem Gepäck in einem keuchenden Taxi gesessen, er war auf seinem Motorrad hinterhergefahren. Die Reise von Barcelona war lang gewesen. Anfangs war es dunkel, dann wurde es sonnig und schwül, und als sie Balaguer hinter sich gelassen hatten und sich dem Dorf näherten, waren sie erschöpft.
Um die Mittagszeit waren sie müde auf dem Dorfplatz von Torena angekommen, der schon Plaza de España hieß, und hatten ihre Habseligkeiten aus dem Taxi geholt: ein paar Teller, ein paar Bücher, ein wenig Wäsche, das Porträt von Rosa. Sie wußten nicht, wohin sie sich wenden sollten, denn der Platz war völlig menschenleer, auch wenn die Blicke hinter den geschlossenen Fenstern in ihren Nacken brannten wie Nadelstiche.
»Das da hinten muß die Schule sein«, sagte Oriol und versuchte, ein wenig hoffnungsfroh dreinzublicken. Sie waren allein, denn der Taxifahrer rumpelte schon wieder nach Sort hinunter, auf der Suche nach einer schönen heißen Paella,wenn diese Hinterwäldler überhaupt wußten, was eine Paella ist.
»Das Haus des Lehrers ist sicher das
Weitere Kostenlose Bücher