Die Stimmen des Flusses
Gabriel gequält, war in den Ferien nach Hause gefahren und hatte sich seit der Eröffnung von Tuca Negra an Weihnachten nicht mehr zu Hause blicken lassen, sondern war durchs Gebirge gestreift, gemeinsam mit Quique, der ihm die besten Abfahrtsstrecken zeigte und ihn unwissentlich die Liebe zu den Bergen lehrte. Wie langweilig waren doch die Sommer, ohne Quique und ohne Schnee.
9
Sie hatte sich ein wenig Gemüse zubereitet. Sie mochte es, wenn der Geruch nach Blumenkohl die Wohnung durchzog wie in ihrer Kindheit. Er hatte etwas Tröstliches, noch dazu, wenn man vor dem Fenster weiterhin den Schnee still auf die schlafenden Straßen fallen sah. Ersatzbefriedigungen. Als sie die Wohnungstür hörte, machte ihr Herz einen Satz, denn sie hatte schon beschlossen, wie sie das Gespräch beginnen wollte. Heute würde sie es tun. Sie würde ihm sagen, Jordi, du hast mich enttäuscht, du bist ein Lügner: Du hast mich betrogen, und das verletzt mich. Alles weitere würde von Jordis Reaktion abhängen. Wie schwierig es doch ist, die Wahrheit zu sagen. Sie drehte sich um und wollte gerade ansetzen, aber die Worte blieben ihr im Hals stecken, denn es war nicht Jordi, sondern Arnau, der seine Tasche mitten im Zimmer abgestellt hatte und ihr nun einen Kuß gab.
»Wo kommst du denn her? Warst du nicht …«
»Ich muß euch etwas sehr Wichtiges sagen.« Er sah sich um. »Wo ist Vater?«
Just in diesem Augenblick öffnete Jordi, eine unbestimmte Melodie pfeifend, die Wohnungstür. Er zog den Anorak aus und bemerkte erst jetzt Arnau. Doktor Schiwago war wachsam, erstaunt darüber, sie alle drei zusammen zu sehen.
»Was machst du denn hier? Solltest du nicht mit deiner Clique von Koksern herumhängen?«
»Ich habe soeben um Aufnahme in das Benediktinerkloster von Montserrat gebeten.« Alle drei standen noch. »Ich wollte, daß ihr das wißt. Nächste Woche beginnt mein Postulat.«
Tina sank kraftlos in den ersten Sessel, den sie fand.Bestürzt stellte sie fest, daß ihr Sohn plötzlich erwachsen und ihr fremd geworden war.
»Blödsinn«, murmelte Jordi und legte seinen Anorak aufs Sofa.
»Keineswegs. Ich bin alt genug, um zu entscheiden, was ich mit meinem Leben anfange.«
»Aber Arnau, du hast dich … Du bist doch nicht mal getauft! Wir haben dich als freien Menschen erzogen!«
»Ich bin getauft. Vor drei Jahren habe ich die Taufe empfangen.«
»Und warum hast du uns nichts gesagt?«
»Ich wollte euch keinen Kummer machen. Vielleicht hätte ich es euch sagen sollen.«
»Moment mal.« Nach dem ersten Schreck hatte Jordi sich wieder gefangen. »Du nimmst uns auf den Arm, nicht wahr?« Er gab sich kumpelhaft, eher als Freund denn als Vater seines Sohnes: »Was soll das? Ist das ein Spiel? Eine Wette mit deinen Freunden? Oder willst du uns provozieren? Hast du vergessen, daß wir im einundzwanzigsten Jahrhundert leben? Hast du vergessen, daß wir dich in Offenheit und Toleranz zum Nonkonformisten erzogen haben?«
»Nein, natürlich nicht. Aber ich bin gläubig und fühle mich zum Mönch berufen.« Arnau sprach langsam, mit niedergeschlagenen Augen, leise, aber deutlich.
»Einen Scheiß bist du!« schrie Jordi, den der sanfte Tonfall seines Sohnes mehr aufbrachte als seine Worte.
»Warum hast du uns denn nie gesagt, du wolltest … du hättest … Warum nicht … Warum …«
Als Tina mit ihren verspäteten Warums begann, wußte sie schon, daß der Kampf verloren war. Die Frage, was gewesen wäre, wenn, war völlig überflüssig, denn was geschehen war, war geschehen. Warum ist Jordi mir untreu, warum hat Arnau nicht das geringste Vertrauen zu mir, warum habe ich bloß alles falsch gemacht, so daß meine beiden Männer mir völlig fremd sind, warum, Gott im Himmel, an den ich nicht glaube?
»Sieh mal,Arnau.« Jordi nutzte Tinas fassungsloses Schweigen, um sich wieder einzumischen: »Wir haben dich im Geist der Freiheit erzogen, haben dir stets zur Seite gestanden und dich unterstützt, wo immer es nötig war, wir haben dir unseren Glauben an den Menschen mitgegeben und …«
»Was willst du damit sagen?«
»Wir haben dich dazu erzogen, nicht dem Aberglauben zu verfallen, wir haben dir erklärt, daß menschliche Größe aus Ehrlichkeit erwächst und daß das Gute darin besteht, sich und anderen gegenüber aufrichtig zu sein, und daß alles, was uns die Kirche jahrhundertelang eingeredet hat, nichts als Betrug war, ein Mittel, um Macht über die Menschen auszuüben. Haben wir das nicht deutlich genug
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