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Die Stimmen des Flusses

Die Stimmen des Flusses

Titel: Die Stimmen des Flusses Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jaume Cabré
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wir haben nichts mehr von ihm gehört, Senyor.«
    »Nenn mich nicht Senyor, sag ›Kamerad‹ zu mir.«
    »Ja, Kamerad.«
    »Wie oft kommt er nach Hause?«
    »Gar nicht, Kamerad. Ich schwöre es dir.«
    »Schwör keinen Meineid.«
    »Das tue ich nicht, ich sage die Wahrheit.«
    Der Uniformierte mit dem schmalen Schnurrbart steckte den Kopf zur Tür herein. »Der Lehrer ist draußen.«
    »Er soll reinkommen.«
    Sie ließen Oriol herein, und er konnte Ventureta in die Augen sehen. Der Junge wandte verächtlich den Blick ab und starrte an die Wand unterhalb des Fotos des siegreichen Franco in Felduniform.
    »Was habt ihr mit ihm gemacht?«
    »Wir haben ihm kein Haar gekrümmt.« Targa nahm Oriol am Arm, führte ihn aus dem Büro und erklärte ihm so, daß Ventureta es hören konnte, wenn sich der Vater des Jungen nicht ergebe, werde man dem Jungen leider eben doch ein Haar krümmen müssen. Im Halbdunkel des Korridors vor der Bürotür hielt Valentí Oriols Arm fest gepackt und raunte ihm mit zornfunkelnden Augen ins Ohr: »Das war das letzte Mal, daß du eine meiner Entscheidungen vor anderen in Frage stellst.«
    »Ich habe Sie nur gefragt, ob …«
    »Hier bestimme ich.«
    »Er ist doch ein Kind, nur ein Kind.«
    »Du mußt beim Verhör Protokoll führen.«
    »Ich?«
    »Balansó und die anderen würden Tage dafür brauchen.«
    »Was ist das hier – ein Prozeß? Warum melden wir das nicht nach Sort?«
    »Sollte es dir einfallen, so etwas zu tun«, zischte Valentí, »spieße ich dich bei lebendigem Leib auf.«
    Noch immer hielt er ihn wütend am Arm gepackt. Dann tippte er ihm mit dem Zeigefinger auf die Brust und fuhr etwas ruhiger fort: »Ich bin für die öffentliche Ordnung in dieser Gemeinde verantwortlich. Und ich will, daß ein Protokoll geführt wird, damit alles seine Richtigkeit hat.«
    »Der Junge kann doch nichts getan haben.«
    »Habe ich dir jemals gesagt, wie du den Kindern das Einmaleins beibringen sollst? Wenn das überhaupt noch gelehrt wird …«
    Als Valentí Targa das Verhör wiederaufnahm, saß Oriol Fontelles, Grundschullehrer und nunmehr Gerichtsschreiber, mit Bleistift und Papier in der Ecke und sah den Jungen nicht an. Valentí ließ sich vor Ventureta nieder, klopfte ihm freundschaftlich auf die Schulter und sagte: »Mal sehen, wo waren wir? Ach ja, du wolltest mir sagen, wo sich dein Vater versteckt hält. Wo?«
    »Ich habe gesagt, ich weiß es nicht, Kamerad.«
    »Nenn mich nicht Kamerad: Das verdienst du nicht.«
    »Ich weiß nicht, wo er sich versteckt, Senyor.«
    »Also gut. Dann warten wir eben.« Er setzte sich neben den Jungen und musterte ihn: »Da dein Vater ein Feigling ist, wird er sich nicht stellen, und wir werden dich erschießen müssen. Es ist ein Jammer.«
    Oriol hob ruckartig den Kopf. Er traf auf Valentís eisigen Blick, als hätte dieser das nur gesagt, um zu sehen, wie er reagierte.
    »Aber mein Vater weiß ja nicht, daß ich …« wandte Ventureta ein.
    »Natürlich weiß er es. Ich weiß nicht, wie sie es machen, aber die Nachrichten fliegen.«Valentí nahm den Tabakbeutel und drehte sich eine Zigarette. »Wenn er nicht kommt, dann deshalb, weil er ein Feigling ist.«
    Er hielt inne und zeigte mit der halb gerollten Zigarette auf den Jungen: »Sagt dir der Name Eliot etwas?«
    »Nein.«
    Oriol senkte den Kopf und schrieb weiter. Er hörte den Jungen mit zitternder Stimme fragen: »Kann ich rauchen, Senyor?«
    »Nein. Das hättest du dir vorher überlegen müssen.« Er sah ihn fest an, in der Hand noch immer die Zigarette: »Wir sind keine Freunde mehr. Ich werde dir weh tun müssen, damit du mir sagst, was du weißt.«
    Joan Esplandiu aus dem Hause Ventura, genannt Ventureta, schluchzte auf, unfähig, seine Angst länger zu bezähmen.
    »Ich kann nichts dafür«, sagte Valentí und zündete sich die Zigarette an. Er spuckte einen Tabakkrümel aus. »Dein Vater ist schuld, der Mistkerl.«
    Ventureta schluchzte wieder auf, und Valentí sah ihn verächtlich an: »Ich habe Jüngere als dich sterben sehen, mit dem Gewehr in der Hand und freudigen Herzens.« Sein Gesicht war nur noch eine Handbreit von dem Jungen entfernt, seine Stimme war leise: »Und du heulst wie ein Weib …« Er blies ihm den Rauch ins Gesicht und fragte, beinahe flüsternd: »Wo ist dein Vater?«
    »Herr Lehrer«, sagte der Junge, »sagen Sie ihm doch, daß ich …«
    »Der Herr Lehrer ist als Schreiber hier. Du hast kein Recht, ihn anzusprechen.«
    Valentí stand auf, ging zu dem schreibenden Oriol

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