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Die Stimmen des Flusses

Die Stimmen des Flusses

Titel: Die Stimmen des Flusses Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jaume Cabré
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hinüber und streckte die Hand nach dem Protokoll aus. Er überflog es, aufmerksam beobachtet von Ventureta, der darauf zu hoffen schien, daß irgendwo auf diesen rauhen, dunklen Blättern seine Begnadigung verzeichnet wäre, es war ein Fehler, wir entschuldigen uns im Namen des Caudillo höchstpersönlich. Plötzlich verzog der Bürgermeister unwillig das Gesicht und klopfte auf einen Absatz, der ihm nicht gefiel. Als er alles durchgelesen hatte, legte er Oriol die Papiere wieder hin: »So stimmt das nicht. Schreib.«
    Er ging auf und ab, die Hände auf dem Rücken, und rezitierte: »Nachdem der bereits genannte Joan Esplandiu aus dem Hause Ventura aufgefordert worden war, sich im Rathaus einzufinden, ist er aus freien Stücken und mit dem Einverständnis seiner Familie erschienen. Da es im Rathaus keinen Verhörraum gibt, wurde er in mein Büro gebracht, wo ihm ein Glas Wasser angeboten wurde. Und da die Angelegenheit, aufgrund deren er ins Rathaus zitiert worden war, nicht aufgeklärt werden konnte, wurde er eingeladen, die Nacht im Rathaus zu verbringen, was er freudig annahm.«
    Valentí deutete auf die Papiere und die Schreibmaschine: »Schreib das ins reine«, sagte er und zog sich Jacke und Schal an.

15
    Obwohl Marcel Vilabrús Werdegang, sein Erbgut und sein Naturell ihn geradezu prädestinierten, Herzen zu brechen, andere zu verletzen, ihnen seinen Willen aufzuzwingen und sie an sich zu binden, und das alles, ohne einen Finger zu rühren, man könnte sagen, unwillentlich, beging er den Fehler, sich in die falsche Frau zu verlieben. Sie hieß Ramona und stammte aus einer Handwerkerfamilie in Sants, war begeistert von den Angriffen der Studenten von Nanterre auf die Staatsgewalt, hatte verstanden, was Revolution bedeutete, und schlug Marcel vor, sie sich vor Ort anzusehen. Er stand kurz vor dem Abschluß seines Jurastudiums und hatte sich vor allem mit Zivil- und Handelsrecht schwergetan. Sie studierte Philosophie, ein wenig planlos und in den Tag hinein. Keiner der beiden hatte die Absicht, sein Studienfach jemals zu seinem Beruf zu machen, Ramona, weil sie sich entschieden hatte, Schriftstellerin zu werden, und Marcel, weil er gar nichts entschieden hatte.
    »Fahrkarte, Rucksack,Trockenfrüchte und Schokolade.«
    Marcel wagte nicht, ihr zu gestehen, daß er noch nie so gereist war. Diese Augen, dieser Mund, sie gefällt mir einfach, ich weiß auch nicht, warum, und so sagte er: »In Ordnung, Fahrkarte, Rucksack, Trockenfrüchte und Schokolade.« Seiner Mutter erzählte er, er wolle mit Quique jetzt, wo nicht so viel los war, die Skipisten von Sankt Moritz erproben. Er erkaufte sich Quiques Schweigen – der sofort zu Elisenda lief, die ihn ebenfalls entlohnte –, er kaufte die beiden Fahrkarten, er kaufte sich einen Hochgebirgsrucksack, zwei Kilo Trockenfrüchte und dreißig Riegel Schokolade und begab sich mit seiner Liebsten zur Estació de França.
    Da der Sohn nicht da war, verbrachte Quique heimlichzwei Tage in Senyora Elisendas Wohnung in Barcelona, eine Oase im Vergleich zu ihren flüchtigen Begegnungen in Torena. Strengste Geheimhaltung war die einzige Bedingung, die sich nicht geändert hatte, seit ihr schwieriges, unerwartetes Verhältnis elf Jahre zuvor begonnen hatte. Damals war Quique ein gutaussehender neunzehnjähriger Junge gewesen, der wußte, was er wollte, und sie war mehr als doppelt so alt wie er. Nun war Quique ein noch immer gutaussehender dreißigjähriger Mann, der wußte, was er wollte, und Senyora Elisenda war über fünfzig. Niemand kannte ihr Verhältnis, oder besser gesagt, Senyora Elisenda glaubte, daß niemand es kenne, und unternahm daher alle nur erdenklichen Anstrengungen, es geheimzuhalten. Senyora Elisenda konnte nicht riskieren, daß jemand auf falsche Gedanken kam, und das Spiel mit der Heimlichkeit gefiel ihnen. Jetzt, da Bibiana tot war, durften nicht einmal die Dienstboten wissen, daß Elisenda die einzigen Orgasmen ihres unregelmäßigen Sexuallebens in den Augenblicken höchster Heimlichkeit hatte.
    Unterdessen war Paris ein Fest. Marcel und Ramona verließen ihr Zimmer in einer Pension in der Rue Guisarde nur, um etwas zu essen und Luft zu schnappen, bevor sie sich wieder aufeinander stürzten. Sie wußten nicht genau, wo das Quartier Latin lag, erhaschten aber immerhin einen Blick auf die Seine, ein paar Brücken und die Silhouette des Eiffelturms. Von nun an hatten sie das Gefühl, an vorderster Front dabeigewesen zu sein.
    Auf der Rückfahrt gestand Marcel

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