Die Stimmen des Flusses
gehöre ihr. Und doch fühlte sie sich schuldig, die Erziehung ihres Sohnes vernachlässigt zu haben. Jetzt, da sie dreiundfünfzig Jahre alt war, stand Marcel kurz vor dem Abschluß seines Jurastudiums und hatte alleseine Kräfte darauf verwandt, ein kompletter Nichtsnutz zu werden. Senyora Elisenda fühlte sich dafür verantwortlich, konnte aber nicht viel mehr tun, als die Scherben zu kitten, wenn ihr Sohn wieder einmal etwas ausgefressen hatte und Ärger drohte, oder ihm eine Strafpredigt zu halten, die Marcel mit gesenktem Kopf über sich ergehen ließ, während er versuchte, sich einen Dreck um die strenge Distanziertheit seiner Mutter zu scheren.
Aus demselben Grund, aus dem sie den gesamten Pallars aufkaufen zu wollen schien, hatte Senyora Elisenda nie erwogen, Casa Gravat zu verlassen. Obwohl das Dorf keineswegs repräsentativ war – es war nicht arm, bot aber einen schäbigen Anblick –, lebte sie weiterhin in Casa Gravat. Von dort aus führte sie lange Telefongespräche mit Barcelona oder Madrid, kaufte und verkaufte mit kalter Präzision. Dort führte sie Buch über den steigenden Verkaufswert der Pferde, über verlorengegangene Kühe und Tonnen von Wolle nach der Schur und sah die Papiere durch, die ihr der Verwalter auf den Wohnzimmertisch legte, an dem sie einmal pro Woche zusammenkamen. Und nur ein- oder zweimal im Jahr ließ sie sich, ein parfümiertes Taschentuch an die Nase gepreßt, auf dem geschäftigen Gutshof sehen, dem Stammhaus der Familie, dem sie ihren Reichtum verdankte. Indem sie in Casa Gravat lebte und deren Remise zu Garagen umbaute, indem sie die mit dem Sgraffito verzierte Fassade reinigen ließ, sich einen Fernseher anschaffte, auf den Balkon trat, der auf den Platz hinausging, und ihren Nardenduft verbreitete, richtete sie über die Schuldigen, die ihrem Bluträcher nicht zum Opfer gefallen und noch am Leben waren; sie zeigte ihnen hemmungslos ihren geradezu obszönen Reichtum und sah über die Häuser der Feliçós, der Venturas und der Gassias von den Misserets, die sich vermehrten wie die Karnickel, hinweg, als gäbe es sie gar nicht, als wären sie nicht mehr als die Kiesel auf dem Platz. So gab sie ihnen zu verstehen, daß der Krieg nicht vorbei war, daß er nie vorbei sein würde, weil sie die Erinnerung an die Toten der Familieaufrechterhielt. Dennoch hatte sie sich aus Bequemlichkeit die riesige Barceloneser Stadtwohnung in Pedralbes herrichten lassen, wo sie so wenig Zeit wie möglich verbrachte, die ihr aber sehr zustatten kam. Und so ging sie methodisch und präzise ihren Geschäften nach, sei es in Torena, in Barcelona oder unterwegs im Auto, weshalb Jacinto Mas, der immer am Steuer saß, einer der Menschen war, die am meisten über Elisenda wußten. Aber er war auch einer der Treuesten, denn sie sieht mich mit diesem Blick an, der sagt, sehr gut, Jacinto, du machst das ausgezeichnet, ich vertraue dir und lege meine Geheimnisse in deine Hände, denn du bist der Paladin meiner Sicherheit. Wenn du wüßtest, wie ich dich liebe, Jacinto, sagt ihr Blick; aber die gesellschaftlichen Schranken und der Klassenunterschied stehen zwischen uns und unserer unsterblichen Liebe.
Senyora Elisendas religiöses Leben war nicht lückenlos verlaufen. Als die Männer des Hauses ermordet wurden und sie nach San Sebastián floh, als sie alles verloren hatte bis auf Bibiana, kühlte ihre Frömmigkeit so stark ab, daß sie ostentativ der Messe fernblieb, um Gott für sein Versagen zu strafen. Doch als sie nach Torena zurückkehrte und die Ereignisse ihren Lauf nahmen, als sie sich ausruhen konnte, ging sie wieder regelmäßig zur Messe, sehr zur Freude von Hochwürden Aureli Bagà, dem Senyora Elisenda ihre unvermeidlichen Sünden anvertraute. Seit sie zu den gängigen Formen der Andacht zurückgekehrt war, fehlte sie nicht einen Sonntag in der Kirche. Sie saß stets am gleichen Platz in der vordersten Bank, während in der hintersten Bank, bei der Kirchentür, Jacinto Mas mit verschränkten Armen darüber wachte, daß niemand auf dumme Gedanken kam. Niemals wäre es sonntags jemandem eingefallen, sich auf ihren Platz zu setzen, nicht einmal Cecilia Báscones. In der Kirche Sant Pere von Torena feierte Marcel auch seine Erstkommunion, obwohl ihr angeboten worden war, sie in der Kathedrale von La Seu d’Urgell oder sogar in der Kirche der Jesuiten von Sarrià zu feiern, die ausgezeichnete Beziehungen zumInternat Sant Gabriel unterhielten. Und jeden Sonntag drückte sie Hochwürden Aureli,
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