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Die Stimmen des Flusses

Die Stimmen des Flusses

Titel: Die Stimmen des Flusses Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jaume Cabré
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wenn dieser herbeieilte, um sie zu grüßen und so zu tun, als grüßte er auch die anderen Gläubigen, einen zusammengefalteten Geldschein in die Hand. Alle drei, vier Monate fragte sie ihn, wie der Prozeß voranging, und Hochwürden Aureli, der die Frage stets fürchtete, mußte nach La Seu reisen, um sich nach dem neuesten Stand des Prozesses zu erkundigen; dann überbrachte er Senyora Elisenda eine geschönte Antwort, die diese stets schweigend entgegennahm. In diesen heiklen Momenten fand Hochwürden Aureli, daß er sich die großzügigen Spenden Senyora Vilabrús mehr als verdient hatte.
    Einmal im Monat kam der alte Kanoniker August Vilabrú nach Torena, um die Messe zu lesen, und seine Nichte Elisenda lauschte ihr andächtig wie immer. Seine gut neunzig Jahre straften Hochwürden August hart; er konnte die Frage nach der Ergodizität zufälliger Prozesse in kompakten metrischen Räumen nicht auf Anhieb erfassen, seine Augen röteten sich, wenn er vor dem Papier saß, die Formeln begannen zu verschwimmen, und er wäre gerne dreißig Jahre jünger gewesen, um zu sehen, welche neuen Wege die Mathematik einschlug. So verhielt er sich still und blickte aus traurigen Jagdhundaugen drein.
    Zwar sündigte Senyora Elisenda drei- bis viermal im Monat, doch fand sie, das gehe Hochwürden Aureli Bagà nichts an, und so brachte sie das Thema während der Beichte gar nicht erst zur Sprache. Außerdem sündigte sie immer häufiger in ihrer Wohnung in Barcelona statt im Dorf, weil sie nicht wollte, daß irgend jemand in Torena ihre Schreie hörte. Niemand sollte sie hören, nicht einmal die guten, francotreuen Familien wie die Birulés, die Savinas, die Majals oder die Narcís genossen die Ehre ihres Vertrauens, ganz zu schweigen von Cecilia Báscones, dieser unsäglichen Person. Senyora Elisenda hatte beschlossen, daß sie in Torena keine Freunde haben wollte. Sie lebte in Torena, um sich an ein paar Menschen zu erinnern, über die sie gesiegt hatte, undum einmal im Monat zum Friedhof gehen zu können, ob es regnete oder schneite. Und um Gottes Blick aus größerer Nähe zu ertragen.
    Sie musterte das Flugzeugticket ganz genau, als wäre es die Lösung all ihrer Probleme. Immerhin hatte sie beschlossen, daß es an ihr lag, den nächsten Schachzug zu tun.
    Im Morgengrauen brach sie von Torena auf. Während der endlosen Reise zum Flughafen von Barcelona besprach sie sich mit Rechtsanwalt Gasull, und am Parkplatz angekommen, bat sie ihn, sie mit Jacinto allein zu lassen. Dieser ließ die Trennscheibe herab und sog mit weit geöffneten Nasenflügeln den Nardenduft ein, während sie seinem Hinterkopf Anweisungen erteilte. Jacinto hörte ihr zu, betrachtete sie dabei im Rückspiegel und verstand wie immer vollkommen, was sie ihm zu tun befahl, um dem Trauerspiel zwischen Marcel und dieser Hippieschlampe ein Ende zu setzen.
    »Ich will, daß alles erledigt ist, wenn ich zurückkomme.«
    »Alles wird erledigt sein.«
    »Danke, Jacinto.«
    Sein Herz zog sich zusammen wie immer, wenn sie sagte, sehr gut, Jacinto, du machst das ausgezeichnet. Aber er beschränkte sich darauf, ihr eine gute Reise zu wünschen.
    Sie war mit einem Nachtzug zurückgekehrt, müde, traurig. Vor allem aber war ihre Würde angekratzt, denn trotz ihrer Empörung dachte sie alle fünf Minuten, gleich geht die Tür auf, und dann kommt Marcel rein, und ich werde ihm sagen, du bist ein Mistkerl, das hättest du mir früher sagen können, aber wenn du willst, können wir drüber reden, okay? Aber Marcel erschien nicht an der Abteiltür, weil er in diesem Augenblick seiner Mamà vorschwindelte, wie sehr ihn die neuen Skipisten von Sankt Moritz beeindruckt hätten, die er nur aus dem Katalog kannte. Senyora Elisenda, die schon ihr Ticket nach Fiumicino hatte, hörte ihm geduldig zu und dachte, mit wem warst du wohl zusammen, wer hat dir denKopf verdreht, daß du hier diese Komödie spielst, wo du dich doch sonst zu nichts aufraffen kannst.
    Als Ramona ein paar Tage später gerade überlegte, ob sie nicht doch etwas vorschnell reagiert hatte, mein Gott, was ist schon so schlimm daran, Millionär zu sein, und drauf und dran war, Marcel anzurufen, fand Jacinto Mas die Studentenwohnung und führte ein sehr interessantes Gespräch mit ihr. Sie saß auf ihrem Bett, er stand vor ihr, eine Zigarette im Mund, deren Rauch ihm in die Augen stieg, und fuhr sich mit dem Finger über die Narbe im Gesicht, wie immer, wenn er nachdachte. Ab und zu warf er einen Blick auf das

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