Die Stimmen des Flusses
können. Zu spät.
»Was sagt man?«
»Nichts.«
Elisenda ließ Oriols Hand los. Er spürte ihre Anspannung, aber ihre Stimme blieb ruhig: »Was sagt man?«
Oriol sah sie an. Zum ersten Mal war sie ernst. Zum ersten Mal sah sie ihn nicht mit diesen Augen an, die zu malen ihm gelungen war. Er sah sich gezwungen zu antworten. »Nichts, es … es heißt hier in Torena, daß Targa mit den Leuten abrechnet, die …«
Elisenda stand auf und beendete seinen Satz: »… mit den Leuten, die meinen Vater und meinen Bruder auf dem Gewissen haben, ja.«
»Ja.«
»Muß ich dich auch daran erinnern, daß ich mit diesem Höhlenmenschen nichts zu schaffen habe?«
»Nein, ich …«
»Als ich vor einem Jahr zurückgekommen bin, war leider alles schon passiert. Außerdem wurden überall alte Rechnungen beglichen.« Sie wandte ihm den Rücken zu, wie um das Bild zu betrachten. »Und ich bin dir keine Rechenschaft schuldig.«
Oriol fuhr sich mit den Händen über das Gesicht. »Ich will nur wissen, ob du dich für das Leben von Ventureta einsetzen kannst.«
Elisenda drehte sich um, nickte knapp und sagte: »Geh.«
Oriol stand auf. Er kämpfte mit den Tränen. Er wollte nicht länger Dorfschullehrer sein und wünschte sich, er hätte nie den Körper dieser wunderschönen, hassenswerten, bewundernswerten Frau gemalt. Als er schon an der Tür war, hörte er, wie Elisenda sagte: »Mach dir keine Sorgen, dem Jungen wird nichts geschehen.«
17
Es war das aufreibendste Abendessen, an das Tina sich erinnern konnte. Mit gesenktem Blick löffelten ihre Männer die Suppe in sich hinein, und sie beobachtete die beiden und versuchte, ein Gespräch anzufangen: »Weißt du denn, wann wir dich besuchen können?«, und Jordi sagte, hart in seiner Verzweiflung, daß er ihn nie besuchen werde, und Arnau antwortete, an sie gewandt: »Ich weiß es nicht genau, aber sobald ich es weiß, sage ich euch Bescheid. Ich würde mich sehr freuen, euch zu sehen. Oder dich.« Eine weitere quälende Viertelstunde verstrich in Schweigen, weil das »oder dich« Jordi aus dem Gespräch ausschloß, aus der Zukunft. Als sie die Suppe gegessen hatten, brach sie das Schweigen: »Ich weiß nicht, ich kann mir einfach nicht vorstellen, wie du in Schwarz aussiehst, mit einem Gebetbuch in der Hand oder im Chor. Das ist fast so seltsam, als würdest du mich zur Großmutter machen.« Es war der einzige heitere Augenblick bei ihrem letzten gemeinsamen Mahl. Arnau brach in Gelächter aus, und Tina wußte genau, daß Jordi sich das Lachen verkniff, weil er so stur war, daß er seine Rolle nicht aufgeben konnte, auch wenn es ihm leid tat, daß er nicht scherzen konnte. Nach dem Omelett war er taktlos genug zu bemerken: »Du wirst die Frauen vermissen.«
»Ja. Ich weiß.«
»Und warum machst du es dann?«
»Aus anderen Gründen.« Arnau trank einen Schluck Wasser. »Ich weiß nicht, ob die dich besonders interessieren.«
»Mich schon«, flüsterte Tina.
Und dann sprach Arnau zu ihnen von der Gemeinschaft der Heiligen, der Kraft des Gebets, vom Ora et labora, vom Sinn, den er im Leben im Kloster sah, von dem, was er seinenWeg als Mönch nannte. Vom Sinn der kanonischen Stunden, vom Sinn der Liturgie, davon, daß er um Aufnahme ins Kloster von Montserrat gebeten hatte, weil er den Rest seines Lebens dort verbringen wollte. Daß er nicht wußte, ob er zur Priesterweihe erwählt würde, daß nur zählte, daß er Mönch wurde. Und als er sagte, den Rest seines Lebens, klang das für Tina wie der Rest seines Todes, und sie hörte, wie sich über ihm eine Grabplatte schloß und der Knall in einem dunklen Kirchenschiff nachhallte. Arnau sprach ruhig und gelassen wie immer, er wollte niemanden belehren, er wollte nur seine innere Freude über seinen neuen Lebensweg zum Ausdruck bringen. Und nein, er wollte lieber allein gehen, das war besser so. Nein, wirklich nicht. Er wollte nicht, daß sie ihn begleiteten. Seine Eltern pickten vereinzelte Krumen von den Servietten auf; sie wagten nicht, einander anzusehen, lauschten ihrem Sohn, und beide dachten traurig, wie kommt es nur, daß sie ihn mit diesen Geschichten eingewickelt haben, mein Gott, die Gemeinschaft der Heiligen, er war doch immer so vernünftig und intelligent, gebildet und fleißig. In wessen Namen, mein Gott, im Namen welcher verfluchten Heiligen haben diese Seelenfänger ihm so das Gehirn gewaschen.
Wortlos spülten sie das Geschirr. Sie verzichteten darauf, den Fernseher einzuschalten, weil das unpassend gewesen
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