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Die Stimmen des Flusses

Die Stimmen des Flusses

Titel: Die Stimmen des Flusses Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jaume Cabré
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wäre, setzten sich in die Sessel, und Jordi zündete sich seine Pfeife an. Alle drei schwiegen, aber es war ein ungemütliches Schweigen. Es war ihre spröde Art, Abschied voneinander zu nehmen, denn du wirst wohl nicht wieder nach Hause zurückkehren, wenn dein Vater und ich überhaupt noch ein gemeinsames Zuhause haben. Als Jordi seine Pfeife fast ausgeraucht hatte, spürte Tina das Stechen, drei Tage ohne Schmerzen und ausgerechnet heute. Sie vertrieb die dunkle Wolke aus ihren Gedanken, stand auf und ging hinaus. Im Arbeitszimmer hörte sie undeutlich, wie Jordi sagte: »Im Kloster wirst du die Bereicherung durch die zunehmendeVermischung der Kulturen verpassen.« Arnau antwortete so leise, daß sie ihn nicht verstand. Jordi war einfach unerträglich; er wußte nicht, was er ihm sagen sollte. Wie ich. Ich würde ihm sagen, wenn du nach Montserrat gehst, wirst du nie eine Frau haben, die dich liebt. Und ich werde vor Kummer sterben. Aber das kann ich ihm nicht sagen. Mit einem Päckchen in der Hand kam Tina ins Wohnzimmer zurück.
    »Für dich.«
    Sie gab es dem überraschten Arnau. Er packte es aus, ebenso neugierig wie Jordi, der nichts davon gewußt hatte. Es war ein Fotoalbum mit den schönsten Aufnahmen ihres Sohnes aus zwanzig Jahren, vom ersten Gähnen im Krankenhaus (wie stolz ich war, Mutter zu sein, verantwortlich für das Leben eines menschlichen Wesens), bis zum letzten Sommer, als er sonnengebräunt aus dem Arbeitscamp einer französischen NGO in Bosnien zurückkam. Auf diesem Foto stand er neben einem lächelnden Jordi, der sich zu dieser Zeit vielleicht schon mit ich-weiß-nicht-wem eingelassen hatte.
    Arnau betrachtete die Fotos andächtig. Sie war sich sicher, daß er gerührt war, auch wenn er es nicht zeigen konnte. Sie bemerkte, daß er das Foto von seinem achtzehnten Geburtstag rasch überblätterte; er stand vor Tannen und einer Schneewehe und blickte träumerisch in die Zukunft, Arnau, mein wunderschöner Junge, den ich geboren habe. Ein Bild, auf das ich stolz sein kann. Ein Sohn, der mich verwirrt.
    Sie gingen spät zu Bett, um das Ende dieses stillen Augenblicks der Gemeinsamkeit hinauszuzögern. Tina mußte zugeben, daß Jordi sich einigermaßen anständig verhielt, denn er machte keine Szene und riß sich offenbar zusammen, bis sie allein wären. Tina wollte nicht mit ihm zusammen zu Bett gehen.
    »Ich wecke euch schon«, sagte Arnau und stellte den Wecker.
    »Ich verstehe nicht, warum du so früh gehen mußt.«
    »Gute Nacht, Arnau.«
    »Gute Nacht, Vater.« Er küßte seine Mutter sacht. »Unddanke für die Fotos, ich habe mich sehr darüber gefreut.« Dann schloß er die Zimmertür.
    In seinem Zimmer setzte sich Arnau auf die Bettkante. Gedankenverloren kraulte er Juri, der mitten auf dem Bett lag. Der Kater maunzte und kam zu ihm. Arnau schreckte auf und sagte: »Ich weiß, daß ich dich nie wiedersehen werde, Juri Andrejewitsch. Die Eltern schon, aber dich nicht.« Beim Abendessen, dem Nachtisch, dem Abwasch und den letzten Fotos, die er in seinem Leben geschenkt bekam, hatte er sich zusammengerissen, war hart geblieben angesichts der verwirrten Traurigkeit seiner Mutter und des hilflosen Zorns seines Vaters, aber nun, da er Juri kraulte, kamen ihm unversehens die Tränen, und er dachte wieder, dich werde ich nicht mehr sehen, Juri Andrejewitsch, denn du bist schon alt. Doktor Schiwago, verblüfft über den Gefühlsausbruch, gähnte energisch und sprang gewandt vom Bett, einem unbekannten Geräusch nach, denn mit dem Sohn des Hauses sprach er nicht.
    Was soll ich jetzt tun? fragte sich Tina, die vor dem Computer saß und darauf wartete, daß Jordi zu schnarchen begann. Ohne Sohn, ohne Mann. Sie öffnete die Mappe, die Joana ihr gegeben hatte, und fand den Bericht über Oriol Fontelles’ Tod. Mit einer Lupe betrachtete sie die Gesichter der beiden Falangisten auf dem sepiabraunen Foto genauer. Beide trugen Uniform. Der, von dem sie annahm, daß es Oriol sei, weil er jünger aussah, war sehr groß und hatte verstrubbelte Haare. Der andere, ein älterer, dunkler Mann, hatte sein Haar nach hinten gekämmt und trug einen schmalen, sorgfältig gestutzten Schnurrbart. Sie las den Artikel noch einmal, der ehrliche Mann, der fleißige Lehrer, der Held und Märtyrer. Sie versuchte, sich vorzustellen, wie er gestorben war, um nicht an Arnau zu denken. Sie las noch einmal, was er mit seiner kleinen, sauberen Schrift in die Hefte geschrieben hatte, die sie in der Schule gefunden hatte. Jordi

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