Die Stimmen des Flusses
fotografieren.«
»Warum wollen Sie mit der Tochter von Senyor Fontelles sprechen?«
»Nun, ich … Ich habe ein paar Briefe gefunden und …«
»Von Oriol?« Sie riß sich zusammen. »Von Senyor Fontelles?«
Schweigen. Beide waren auf der Hut. Schon lange hatte sich Senyora Elisenda nicht mehr so unsicher gefühlt.
»Wo haben Sie sie gefunden?«
»Sagen Sie mir, wo ich Fontelles’ Tochter finden kann, oder nicht?«
Senyora Elisenda stand auf, auf ihren Stock gestützt. Als sie sieben Jahre alt gewesen war, war ihre Mutter über Nacht verschwunden, und seitdem war sie es gewohnt, zu befehlen.Mit siebzehn war sie in die Gesellschaft eingeführt worden, und ihr Vater hatte ihr zu Ehren ein Fest gegeben, zu dem Politiker und Financiers kamen, die sonst nie einen Fuß ins Gebirge setzten, weil man sich dort die Schuhe schmutzig machte. Damals hatte sie erkannt, daß ihre Klugheit und Schönheit verheerend auf Männer wirkten und daß sie sie nutzen konnte. Sie verstand, daß sie immer ihren Willen würde durchsetzen können, wenn sie es nur geschickt anstellte. Damit die Männer, die sie umgaben, das ebenfalls verstanden, sprach sie nicht länger mit ihnen, sondern beschränkte sich darauf, ihnen Anweisungen zu erteilen. Es war ein Erfolg: Jeder in ihrer Umgebung stand vor ihr stramm, sogar ihr Vater und Josep. Und Bibiana, die am Fußende ihres Bettes saß und an ihrem Kräutertee nippte, dachte, ich habe schon immer gewußt, daß dieses Kind klüger ist als alle. Aber Elisenda glaubte, sie könne sich auch die Welt und das Leben untertan machen; sie wußte nicht – und niemand sagte es ihr –, daß es Augenblicke gibt, in denen das Leben zu schwer wird und man lernen muß, sich zu beugen, damit einen die Luft, die uns umgibt, nicht zerbricht. Und Elisendas Seele zersprang in tausend Stücke, als am 20. Juli 1936 ein Trupp Anarchisten aus Tremp, benachrichtigt, geführt und ermuntert von mörderischen Neidern aus dem Dorf, ihren Vater und ihren Bruder ermordeten und ihr nur ein Weg blieb, nämlich der, nie zu vergessen. Niemals, Bibiana, das schwöre ich dir.
»Sie müßten mir diese Briefe zeigen.«
»Nein. Sie sind persönlich und gehen Sie nichts an.«
»Es gibt nichts von Oriol Fontelles, das mich nichts anginge.«
»Wie bitte?«
»Ich habe den Prozeß seiner Seligsprechung in die Wege geleitet, finanziert und aus nächster Nähe verfolgt und …«
»Wie bitte?«
Senyora Elisenda setzte sich wieder. Sie war abermals Herrin der Lage und gedachte es zu bleiben.
»Im nächsten Frühjahr wird der Heilige Vater den ehrwürdigen Oriol Fontelles seligsprechen.«
»Sie machen Scherze.«
»Haben Sie nicht davon gehört?«
»Von Fontelles’ Seligsprechung?«
»Natürlich.«
»Nein. Das sind Themen …«, sie dachte flüchtig an Arnau, »die mich nicht interessieren.«
»Senyora.« Elisendas Stimme, ihr Gesicht und ihre Bewegungen waren wie verwandelt. »Oriol Fontelles war ein großer Freund unseres Hauses. Ein großer Freund in schweren Tagen und ein Märtyrer der Kirche.« Sie streckte eine tastende Hand aus: »Deshalb hätte ich gern, daß Sie mir für ein paar Tage diese …«
»Sprechen wir über den gleichen Menschen? Soweit sich das aus den Heften erkennen läßt, war er alles andere als ein Heiliger.«
Senyora Elisenda wies mit ihrem Stock auf den Kamin. Sie zeigte genau auf ein Foto auf der Kommode.
»Das ist er. Es gab keinen anderen.«
Tina stand auf und ging zu dem Foto hinüber. Eine Nahaufnahme von Oriol Fontelles, der zur Seite sah, in eine Zukunft, die er nicht hatte. Der gleiche Gesichtsausdruck, der gleiche Zug um den Mund wie auf dem Selbstporträt, das er in der Schultoilette angefertigt hatte. Aber er trug die Uniform der Falange. Es war eine Vergrößerung des Fotos, auf dem er neben Valentí Targa stand, immer das gleiche Foto, das einzige. Neben diesem Foto gab es noch Bilder von unbekannten Leuten, wohl Familienangehörigen. Ein Priester im Stuhl, neben ihm ein stehender Mann, im Garten von Casa Gravat. Die stolze, silbergerahmte Aufnahme einer jungen Frau, zweifellos Senyora Elisenda, die einem lächelnden General Franco die Hand schüttelte, umgeben von gutgelaunten Uniformierten. Deren Heiterkeit wirkte fast übertrieben, die einzige, die nicht lachte, war sie. Fotos eines kleinen Jungen, der ihr vage vertraut erschien,in verschiedenen Lebensjahren. Und weitere unbekannte Personen.
»Ja, er ist es«, gab Tina zu. »Ich wußte nicht …«
»Sie sind verpflichtet, mir
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