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Die Stimmen des Flusses

Die Stimmen des Flusses

Titel: Die Stimmen des Flusses Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jaume Cabré
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schnarchte immer noch nicht. »Geliebte Tochter, ich kenne nicht einmal deinen Namen« – so begann es. »Geliebte Tochter, ich kennenicht einmal Deinen Namen, aber ich weiß, daß es Dich gibt. Ich hoffe, daß jemand Dir diese Zeilen übergibt, wenn Du groß bist, denn ich möchte, daß Du sie liest. Ich habe Angst vor dem, was sie Dir über mich erzählen könnten, vor allem Deine Mutter. Deshalb schreibe ich Dir diesen Brief. Es wird ein langer Brief werden, und wenn Du ihn bekommst, werde ich tot sein. Das wird Dir nicht viel ausmachen, denn Du wirst mich nicht kennengelernt haben. Weißt Du, ich glaube, dieser Brief ist wie das Licht der Sterne: er erreicht dich erst, wenn ich schon lange tot bin. Geliebte Tochter, ich kenne nicht einmal Deinen Namen.« Mein geliebter Sohn Arnau, ich kenne zwar deinen Namen, aber ich weiß nicht, wer du bist.
    Das war der Moment, in dem sie beschloß, die vier Hefte in den Computer zu übertragen, sie zu veröffentlichen, um die Erinnerungen eines Besiegten zu bewahren. Und sie beschloß, Arnau am nächsten Morgen, wenn sie ihm den letzten Kuß gab, zu sagen, daß sie ihn von ganzem Herzen liebte und daß er ihr verzeihen solle, weil sie es nicht besser hatte machen können. Und daß sie Angst vor dem Arztbesuch hatte und vor dem, was man ihr dort sagen würde. All das würde sie in ihre letzte Umarmung legen. Sorgfältig verstaute sie die Hefte und ging zu Bett, wo Jordi schnarchte.
    Es war das erste Mal, soweit Tina sich erinnern konnte, daß Arnau sie bewußt belogen hatte. Als um halb acht morgens ihr Wecker klingelte und sie aufstanden, um in die Schule zu gehen, stellten sie traurig fest, daß ihr Sohn schon Stunden zuvor still aus ihrem Leben verschwunden war.

18
    Sie empfing sie stehend, auf einen Stock gestützt. Das Dienstmädchen ließ sie allein und schloß leise die Tür. Senyora Elisenda starrte traurig und befremdet die Wand an, als wäre Tina gar nicht da. Dann setzte sie sich und sah vor sich hin. Mit ihrem Stock gab sie ein Zeichen, das vielleicht eine Aufforderung sein sollte, sich gleichfalls zu setzen. Da erst verstand Tina, daß die Greisin mit den wachen Augen blind war. Unbehaglich nahm sie auf dem Sofa vor ihr Platz. Jemand hätte mir sagen können, daß die Herrin von Casa Gravat blind ist. Ungehindert ließ sie ihren Blick durch den Raum schweifen. Er war geschmackvoll eingerichtet. Die Bilder an den Wänden schienen Urgells, Vayredas und Vancells zu sein, und höchstwahrscheinlich waren sie echt. Neben dem Kamin stand ein Möbelstück, ein Zwischending zwischen Sekretär und Kommode, auf dem viele gerahmte Fotos standen. Über dem Kamin hing das Bild einer wunderschönen jungen Frau; ihre Hände wie Tauben, bereit, aufzufliegen, umschlossen liebevoll ein Buch. Der Blick, die Augen, sagten ihr, daß es sich um ein Bildnis der Frau handelte, die vor ihr saß.
    Lautlos kam das Dienstmädchen mit einem Teeservice herein und schenkte ihnen ein. Erst als es den Raum wieder verlassen hatte, wandte sich Senyora Elisenda Vilabrú an Tina und fragte, als würde sie ein längst begonnenes Gespräch fortsetzen: »Was hat es mit diesem ominösen Buch auf sich?«
    Tina zog eines von Oriols Heften aus ihrer Mappe und öffnete es auf gut Glück.
    »Es ist eher ein Heft als ein Buch. Mehrere Hefte. Und ich hätte gern, daß Sie einen Blick drauf werfen.« Sie streckte esaus, zog es aber sogleich beschämt wieder zurück. »Entschuldigung.«
    »Worum geht es?«
    »Sie kannten Oriol Fontelles, nicht wahr?«
    Bleierne, abweisende Stille senkte sich über den Raum. Tina blickte unbehaglich um sich und schloß das Heft.
    »Natürlich kenne ich ihn«, sagte die alte Dame. Tina bemerkte, daß trotz ihrer Hagerkeit und der Verwüstungen, die sechsundachtzig Lebensjahre auf ihrem Gesicht hinterlassen hatten, ein Hauch ihrer früheren Schönheit der Zeit widerstanden hatte. »Was wollen Sie über ihn wissen?«
    »Ich suche seine Tochter. Und seine Frau, wenn sie noch lebt.«
    Senyora Elisenda stutzte, nur einen winzigen Augenblick, aber Tina hatte es bemerkt.
    »Aus welchem Grund?« fragte Senyora Elisenda schließlich mit veränderter Stimme. Leise steckte Tina das Heft wieder in ihre Tasche.
    »Es ist, weil … Ich bereite einen Fotoband über den Pallars vor und …« Die Augen der alten Dame folgten dem Klang der Stimme, und Tina fühlte sich von dem blinden Blick durchdrungen. Sie fühlte, daß sie weiterreden mußte: »Nun, ich … ich wollte Casa Gravat

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