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Die Stimmen des Flusses

Die Stimmen des Flusses

Titel: Die Stimmen des Flusses Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jaume Cabré
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diese Briefe auszuhändigen. Warum haben Sie gesagt, er sei alles andere als ein Heiliger gewesen?«
    »Die Briefe sind an seine Tochter gerichtet. Ich kann nicht …«
    »Senyor Oriol Fontelles hat nie eine Tochter gehabt.«
    »O doch.«
    »Gewiß nicht, das schwöre ich Ihnen.«
    »Und seine Frau?«
    »Die ist mehr oder weniger am gleichen Tag gestorben wie er.«
    »Wie schrecklich!«
    »Wir waren Oriols Familie.«
    »Ja, aber …«
    »Ich bin die einzige noch lebende Zeugin seines Todes.«
    »Sie?«
    Senyora Elisenda wies mit ihrem Stock auf das Sofa, und Tina ließ die Fotos stehen und nahm gehorsam Platz. Senyora Elisenda schwieg eine Weile und begann dann zu erzählen: Das Tragische ist, daß die Zeit selbst Heldentaten in Vergessenheit geraten läßt; ich aber werde mich erinnern, solange ich lebe, denn in jener Nacht war das ganze Gebirge in Aufruhr. Bürgermeister Targa war mit seinen Männern auf Streife, um zu verhindern, daß die Guerrilleros Torena heimsuchten, denn die Invasion des Maquis im Vall d’Aran hatte schon begonnen, Sie wissen sicher nicht, wovon ich rede. Der Zufall wollte es, daß der erwähnte Anwärter auf die Seligsprechung, der Märtyrer im Dienste des Herrn, Oriol Fontelles, noch in der Schule war. Es war schon spät, aber er hatte im Klassenzimmer zu tun, das ihm ein zweites Zuhause geworden war. Alle Kinder von Torena und ihre Eltern können bezeugen, wie aufopferungsvoll er seiner Aufgabe nachging, der Dorfjugend die Wahrheiten des Lebens und diekatholische Religion zu vermitteln. Seit seiner Ankunft hatte sich die Stimmung im Dorf gewandelt, denn ihm war es gelungen, die durch den Krieg verfeindeten Familien miteinander zu versöhnen. Und ebenso bezeugen und bestätigen wir die Ereignisse, die das Martyrium des Anwärters auf die Seligsprechung, Oriol Fontelles Grau, zur Folge hatten. Es begab sich Folgendes: Um acht Uhr abends am 18. Oktober 1944 sah besagter Diener Gottes nach einem arbeitsreichen Schultag Licht in der Kirche Sant Pere. Darüber war er höchstlich verwundert, denn der Pfarrer, Hochwürden Aureli Bagà Riba – der eifrige Postulator der Seligsprechung –, war seit zwei Tagen in La Seu d’Urgell zu Besuch beim Bischof. Vom Glaubenseifer getrieben, machte sich Oriol Fontelles daran, nachzusehen, was geschehen war. Kaum hatte er die Kirchentür geöffnet, entdeckte er die schreckliche Wahrheit: Ein Trupp von Maquisards, räuberischen Guerrilleros, Kommunisten, Separatisten und Anarchisten war dabei, das Tabernakel mit dem Allerheiligsten darin abzuhängen, sicherlich, um das wenige Gold daran einzuschmelzen. Der Diener Gottes, empört und entsetzt über diese Tat, stieß einen lauten Schrei aus, der die Zeugen herbeirief, die die hier gemachten Aussagen bestätigt haben, Senyor Valentí Targa Sau, seinerzeit Bürgermeister von Torena, und Senyora Elisenda Vilabrú Ramis. Die beiden kamen gerade noch rechtzeitig in die Kirche, um aus einem Winkel heraus das Martyrium von Oriol Fontelles ohnmächtig mitzuverfolgen, da sie unbewaffnet waren. Nach Aussage der Zeugen Targa und Vilabrú beobachteten sie entsetzt und hilflos, wie der wackere Lehrer sich den gotteslästerlichen Angreifern mit nackter Brust entgegenstellte und sie beschwor, von ihrem schändlichen Tun abzulassen. Die Guerrilleros, weit davon entfernt, auf ihn zu hören, lachten ihn aus und bedrohten ihn mit dem Tode. Oriol Fontelles hörte nicht auf diese Drohungen, wenn sie auch noch so unverblümt und gefährlich waren, und schritt voran, bis er vor dem Tabernakel stand.
    Die Zeugen beschwören, daß das, was sie gesehen haben,die reine Wahrheit ist, nämlich, daß der Diener Gottes, empört über die Respektlosigkeit dieser verlorenen Seelen, zwei von ihnen zur Seite stieß und zum Altar vordrang. Von dieser Aktion überrascht, waren die Angreifer einen Augenblick lang wie gelähmt, so daß es ihm gelang, das Tabernakel zu umfassen. Daraufhin befahl ihm der Kopf der Bande, den Altar zu verlassen. Er entgegnete wörtlich, lieber wolle er sterben, er sei bereit, sein Leben für das Tabernakel, das Allerheiligste und die Heilige Mutter Kirche zu geben. Nach einigem Zögern richtete der Anführer der Bande (ein allseits bekannter ehemaliger Schmuggler namens Esplandiu) kaltblütig die Waffe auf den Märtyrer und gab einen Schuß ab, der den Diener Gottes in seine edle Stirn traf und seinen unmittelbaren Tod zur Folge hatte, wie der Polizeiarzt Don Samuel Sáez aus Zamora bestätigt, der den Leichnam

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