Die Stimmen des Flusses
fünfzig Jahre nach dem Tod des Kandidaten erfolgen.«
»Neunzehnhundertvierundneunzig«, sagte der neue Bürgermeister nachdenklich. Er hatte wohl überlegt, ob er da noch dem Gemeinderat vorstehen würde.
»Heute ist ein großer Tag für diese Gemeinde, für die Schule und für das Dorf«, rief der Pfarrer enthusiastisch aus.
»Und für Spanien.« Der Bürgermeister blickte mißtrauisch von einem zum anderen.
»Ja, natürlich«, sagte irgend jemand.
Die Anwesenden aßen gefüllte Oliven im Andenken an den ehrwürdigen Oriol Fontelles und gingen dann zu der Frageüber, ob die neue Brücke über den Boscarró ein steinernes oder metallenes Geländer bekommen solle. Es gab Für und Wider, und Elisenda Vilabrú war beiseite getreten und sah aus dem Fenster auf das Stück Dorf mit der Schule und der kleinen Sant-Pere-Kirche, und alles war so still und gedämpft wie an jenem Tag ein paar Jahre zuvor, als sie zur Beichte gegangen war wie alle vierzehn Tage und Hochwürden Aureli sie in die Sakristei gebeten und ihr gesagt hatte: »Ich habe lange mit Ihrem Onkel, Hochwürden August, gesprochen, und er hat mich davon überzeugt, den Fall des Lehrers und Märtyrers voranzutreiben, was, soviel ich weiß, auch in Ihrem Interesse liegt. Er hat mir eindrucksvolle Einzelheiten aus dem beispielhaften Leben dieses Mannes berichtet, und so habe ich beschlossen, als Postulator aufzutreten, mit der ausdrücklichen Unterstützung von Hochwürden August. Ich hoffe auf Ihre Mitarbeit, Senyora, und auf die des anderen Augenzeugen.« Und dann fügte er noch hinzu, er sei nicht sicher, aber wenn das Wunder, daß der Körper des Märtyrers nicht vom Tabernakel zu trennen war, das er verteidigte, vom Bischof anerkannt würde, könne es in den zukünftigen Prozeß der Seligsprechung einbezogen werden. Hochwürden Aureli war Feuer und Flamme, und Senyora Elisenda sagte ernst: »Sie können auf meine volle Unterstützung rechnen, Hochwürden, auch materielle.« Und zum Beweis küßte sie ihm die Hand und steckte ihm dabei geschickt einen zusammengefalteten Geldschein zu. Endlich konnte es losgehen.
Noch am Abend hatte Senyora Elisenda Valentí Targa im Rathaus informiert und ihm eingeschärft, jede nur erdenkliche Unterstützung zu leisten; jede erdenkliche, verstanden? Und dann hatten beide ein paar Minuten lang geschwiegen, was der Situation etwas Feierliches verlieh, bis sie sich zusammenriß und sagte: »Nun gut, du hast es ja gehört.« Und jetzt, da Oriol Anwärter auf die Seligsprechung war, wandte Elisenda sich vom Fenster ab, und als sie sich umdrehte, schien ihr, als wiche Targas Porträt an der Seitenwand des Raumes ihrem Blick aus.
»Verstehen Sie jetzt, welche Bedeutung diese Briefe für den Prozeß der Seligsprechung haben?«
»Und wenn sie genau das Gegenteil bewirken?«
»Sie können dazu dienen, die Wahrheit ans Licht zu bringen. Überlassen Sie sie mir, und Sie können sie morgen um diese Uhrzeit wieder abholen.»
»Nein.« Tina wechselte das Thema. »Der andere Augenzeuge für Fontelles’Tod war also Bürgermeister Targa.«
»Ja. Aber er ist tot, seit mehr als vierzig Jahren.«
Senyora Elisenda stand auf und ging zu der Kommode mit den Fotos hinüber. Als könnte sie sehen, zeigte sie auf ein Foto, das diskret an die Wand zurückgeschoben war. Es war schwarzweiß, wie beinahe alle Fotos. Hinter einem gewaltigen Schreibtisch saß ein Mann mittleren Alters. Man spürte die Energie, die von ihm ausging; sie lag in seiner Haltung oder seinem Blick. Seine dunklen Haare waren nach hinten gekämmt, und er hatte einen schmalen, geraden Schnurrbart. Er trug keine Uniform, sondern einen eleganten dunklen Anzug. Im Aschenbecher lag eine halbgerauchte Zigarette, und hinter Bürgermeister Targa hing die spanische Flagge und darüber, fast am Bildrand, ein Bildnis General Francos. Die Wanduhr auf der anderen Seite zeigte neun Uhr morgens oder abends. Eine gute Emulsion, dachte Tina, die Einzelheiten sind gut zu erkennen, obwohl das Foto so alt ist. Valentí Targa machte eine Handbewegung, als habe er gerade den Hörer seines alten schwarzen Telefons aufgehängt. Seine hellen, durchdringenden Augen sahen nicht genau in die Kamera, sondern ein wenig nach rechts, zu den Toten hinüber.
»Das ist Valentí Targa?«
»Ja.«
Zum ersten Mal sah sie deutlich sein Gesicht.
»Die Leute aus dem Dorf scheinen ihn nicht gerade in guter Erinnerung zu haben.«
»Was wissen die schon.«
»Ich hatte ihn mir jünger vorgestellt.«
»Das
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