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Die Stimmen des Flusses

Die Stimmen des Flusses

Titel: Die Stimmen des Flusses Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jaume Cabré
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wird.«
    Stille. Dunkelheit im einsamen Kirchenschiff. Es blieb so lange still, daß Tina einen Moment lang glaubte, der Priester habe mitsamt ihren Zweifeln die Flucht ergriffen. Sie hatte sogar Zeit, sich einzugestehen, daß sie sich in diese Frage verbohrt hatte, weil sie wütend auf die Kirche war, die mir meinen Sohn gestohlen hat, ohne mich um meine Meinung zu fragen, klammheimlich, mir, die ich nicht einmal an Gott glaube, nicht an die Gemeinschaft der Heiligen und auch nicht an die Transsubstantiation, genau wie Oriol Fontelles, der Maquisard, den sie als Seligen verkleiden wollen.
    »Ich rate Ihnen, keine schlafenden Hunde zu wecken, meine Tochter«, sagte der Priester nach einer halben Ewigkeit schroff.
    »Danke,Vater.«
    »Überlassen Sie die Glaubensangelegenheiten den Gläubigen.«
    »Ja, aber mein Freund war ja gerade nicht gläubig!«
    »Ich habe Ihnen gesagt, Sie sollen die Finger davon lassen. Sie wollten doch einen Rat, oder?«
    Hochwürden F. Rella, las sie auf dem Namensschild am Beichtstuhl. Hochwürden Rella rät mir, die Finger davon zu lassen, dachte Tina, als sie die Kathedrale verließ, geblendet von der kalten, diffusen Helle des Nachmittags. Sie hatte Kopfschmerzen. Auf dem Rückweg nach Sort mußte sie Schneeketten anlegen, weil der Paß von Cantò verschneit war. Es war schon fast dunkel, als sie vor dem Haus parkte, dabei war es noch gar nicht Abend. Sie sah zu den Fenstern hinauf und dachte, Jordi ist noch nicht zurück. Als sie den Wagen abschloß, trat ein großer, schmaler Mann auf sie zu, der trotz seiner dicken Jacke verfroren aussah, und fragte sie, ob sie die Lehrerin Tina Bros sei.
    »Ja. Was wollen Sie?«
    »Können wir bei Ihnen zu Hause reden?«
    »Worum geht es?«
    »Es ist wichtig.«
    »Aber worum geht es?«
    Jordi hatte einen Unfall. Arnau ist nach dem Frühgebet in eine Schlucht gestürzt. Juri Andrejewitsch ist auf einen Baum geklettert und kommt nicht mehr herunter. Nein, meine Mutter …
    »Um Oriol Fontelles.«
    »Wie bitte?«
    »Oriol Fontelles. Können wir raufgehen?«
    »Nein. Was wollen Sie?«
    »Ich habe gehört, daß Sie Unterlagen besitzen, die nicht Ihnen gehören, und …«
    »Ich? Und darf ich erfahren, woher Sie das wissen?«
    »… und ich erbiete mich, sie ihrem Empfänger zukommen zu lassen.«
    »Weiß der Empfänger davon?«
    »Ja. Seine Tochter.«
    »Mir hat man gesagt, er hätte keine.«
    »Dürfte ich die Papiere einmal sehen?«
    Tina ging auf ihre Haustür zu. Dort angelangt, wandte sie sich nach dem verfroren aussehenden Mann um, der ihr gefolgt war: »Nein. Und sagen Sie Senyora Elisenda, sie soll sich keine Mühe geben, denn von mir wird sie die Papiere nie bekommen.«
    »Welche Senyora Elisenda?«
    »Auf Wiedersehen.«
    Sie ging hinein und schloß vor dem Unbekannten die Tür ab. Dann stieg sie, den Schrecken im Rücken, die Treppe hinauf. In der Wohnung angekommen, verriegelte sie die Tür und sah Juri an, der entspannt in Jordis Sessel meditierte. Obwohl sie sehr hungrig war, weil sie keine Zeit zum Mittagessen gehabt hatte, setzte sie sich an den Computer, entschlossen, die Hefte von Oriol Fontelles so schnell wie möglich fertig abzutippen, da es so aussah, alsmüsse sie von nun an vorsichtig sein, wenn sie auch nicht wußte, wie und warum. Sie hörte, wie Doktor Schiwago, in seiner wohlverdienten Ruhe gestört, hinter ihr gähnte, und beneidete ihn.

24
    Er faßte den Entschluß während der zweiten Porträtsitzung. Bürgermeister Targa saß an seinem Schreibtisch und sah den Maler forschend an, mit hartem Gesicht und diesen beängstigenden eisblauen Augen.
    »Große Männer haben sich eher malen als fotografieren lassen«, erklärte er kategorisch.
    »Ja.«
    »Das Bild muß besser werden als das, was du von der Vilabrú gemalt hast.« Zweite Verordnung.
    »Jedes Bild ist anders. Halten Sie bitte still.«
    »Du hast mir nicht zu sagen, was ich tun soll.«
    Oriol warf den Pinsel in den Topf mit Terpentin, wischte sich die Hände mit dem Lappen ab und seufzte. In einem gereizten Tonfall, den er an sich nicht kannte, sagte er: »Hier bestimme ich, und wenn Ihnen das nicht paßt, suchen Sie sich einen anderen.« Das war der entscheidende Schritt. Hätte er das nicht gesagt, wäre der Rest undenkbar gewesen.
    Stille. In Valentí Targas Augen war Verwirrung zu lesen. Schließlich lachte er auf, lehnte sich entspannt zurück und sagte: »Du hast recht, Kamerad, du hast ja recht. Das ist wie beim Arzt.« Er streckte seine Handgelenke aus, wie um

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