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Die Stimmen des Flusses

Die Stimmen des Flusses

Titel: Die Stimmen des Flusses Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jaume Cabré
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geschrieben und dann unkenntlich gemacht hatte, als er seinen Entschluß faßte und ihn den Heften anvertrauen mußte, um die Einsamkeit besser ertragen zu können. Wieder spürte sie einen Stich; sie hatte Angst vor diesem Schmerz, vor dem Tod, vor Gott, wenn es ihn gab, was ich nicht glaube, wie Oriol, davor, Jordis Liebe zu verlieren, und vor allem vor dem Stechen in der Brust, der Bedrohung, von der die Ärztin gesagt hatte, wenn sie nicht herausgeschnitten würde, würde sie sich in eine Zeitbombe verwandeln. Um ihre Angst zu vertreiben, konzentrierte sie sich auf die durchgestrichenen Zeilen. Was war wohl an diesem kalten Januarmontag in Barcelona geschehen? fragte sie sich, um nicht mehr an das Stechen zu denken.
    Folgendes war geschehen: Um die Mittagszeit trat Senyor Valentí Targa Hand in Hand mit der Zuckerpuppe auf die Straße. Sie war weder besonders jung noch besonders alt und tatsächlich recht attraktiv. Oriol folgte ihnen durch den Carrer Trafalgar bis zum Arc de Triomf. Am Parc de la Ciutadella betraten seine Opfer ein Restaurant, und Oriol entsicherte die Pistole und folgte ihnen mit angehaltenem Atem.
    Töten ist ganz einfach. Es ist ganz einfach, jemanden zu töten, noch dazu, wenn der Mörder von purem Haß getrieben wird und – das ist sehr wichtig – Herr der Lage ist. Als Oriol das Lokal betreten hatte (Restaurant Estació de Vilanova, zwei Uhr nachmittags, fünf Tische waren bereits besetzt, und am reservierten Tisch in der Ecke ließ sich gerade jemand nieder. Ein Schatten verdunkelte die gläserne Eingangstür und öffnete sie) und seine Augen sich an dasschummerige Licht gewöhnt hatten, entdeckte er Valentí Targa am Tisch und ging entschlossen auf ihn zu, wobei er versuchte, an das Gesicht Venturetas und an seine unbekannte Tochter zu denken. Die Zuckerpuppe saß an der Wand und fragte, »Ist es hier gut, Schatz?«, und Senyor Valentí antwortete, »Ja, ja«, und nahm mit dem Rücken zum Tod Platz. Oriol war hinter Valentí getreten und hatte die Pistole gezückt. Die Frau vor ihm riß verständnislos den Mund auf, und Oriol dachte an Senyor Valentí Targa von den Roias aus Altron, den Bürgermeister von Torena, einen ehrlosen Mörder, treulos, mutig, arrogant, einen Meter vierundsiebzig groß, Freund seiner Freunde und nur seiner Freunde, Feind seiner Feinde, und seine Hand begann zu zittern, ganz von selbst, weil Töten doch nicht so einfach ist, vor allem, wenn man den Namen seines Opfers kennt, vor allem, wenn man den, den man töten muß, haßt, aber noch nicht zu verachten gelernt hat. Und seine Hand zitterte so lächerlich stark, daß einige Gäste vom Nebentisch herübersahen und er die Pistole mit beiden Händen greifen mußte, während Senyor Valentí sich über den Tisch beugte, so daß er seinen Nacken noch besser darbot, und gerade mit samtweicher Stimme sagen wollte, du bist phantastisch, wenn wir mit dem Essen fertig sind, legen wir wieder los, aber er hielt gleich zu Beginn des Satzes inne, weil er sah, wie die Zuckerpuppe den Mund aufriß und ihm über die Schulter blickte. Er wunderte sich, daß sie nicht reagierte, denn eigentlich war sie sehr empfänglich für Schmeicheleien, aber dann fiel ihm ein, wie soll sie denn reagieren, wenn ich ihr noch gar nicht … In diesem Augenblick dröhnte ihm der Schuß ins Ohr.
    Oriol schoß einmal, zweimal, dann war das Magazin leer, und während er schoß, dachte er an Ventureta und sein junges Auge, das jetzt ein bleigefülltes Loch war. Dann steckte er die Waffe ein und ging langsam hinaus, ohne auf die beiden Männer zu achten, die wie versteinert im Vorraum des Restaurants standen. Er hörte nur, wie einer von beiden sagte, »Verdammter Mistkerl«, aber er hielt nicht an, umnachzufragen, denn er hatte es eilig, wie alle Mörder. Als die Glastür hinter ihm zuschlug, hörte er die Zuckerpuppe schreien und das Rücken von Stühlen, aber er drehte sich nicht um, denn schon rannte er, zwei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe der U-Bahnstation Triomf hinunter und dachte, einmal im Leben habe ich Glück, denn gerade fuhr die Bahn ein. Er ahnte nicht, daß ein kleiner Mann mit einem Allerweltsgesicht ihm vom Restaurant aus gefolgt war und in denselben Wagen gestiegen war wie er. Eine Station später war Oriol schon im Carrer Fontanella, und der kleine Schatten mit ihm. Eine halbe Stunde später war er auf der Landstraße in Richtung Molins de Rei unterwegs; sein Atem ging noch immer heftig, und er dachte, ich habe getötet, ich

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