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Die Stimmen des Flusses

Die Stimmen des Flusses

Titel: Die Stimmen des Flusses Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jaume Cabré
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die Lieferscheine sorgsam durch, bis er eine Geschäftskarte fand. Wortlos reichte er sie Rosa.
    Sie verzog das Gesicht zu einer dankbaren Grimasse und ging zum Tor. Pere Serrallac blickte ihr nach und sah, daß am Eingang das Taxi von Evarist aus Rialb stand, mit einem schweren Koffer auf dem Dach. Er wünschte der Frau des Lehrers Glück, die ging, ohne Zeit gehabt zu haben, ihre Füße im Pamano zu baden.

23
    »Die Unfehlbarkeit des Papstes in Fragen der Kanonisierung ist theologischer Glaube und nicht göttlicher oder kirchlicher.«
    »Und was bedeutet das?«
    »Das heißt, liebe Señora Elisenda, daß sie weder in der Heiligen Schrift erwähnt wird noch in den Codices des kanonischen Rechts verankert ist. Statt dessen wird sie während des Verfahrens festgelegt.« Er stellte seine Teetasse genau an der gleichen Stelle ab wie Tina Bros eine Woche zuvor und scherzte: »Wir kennen ja alle die Regulierungswut des kirchlichen Codex.«
    Er sah der alten Dame, die ihm gegenübersaß, Vertrauen heischend, in die toten Augen, doch Senyora Elisenda beugte sich leicht vor und sagte, auf jede Förmlichkeit verzichtend: »Erklär mir das, Romà«, und Rechtsanwalt Gasull sagte: »Soweit ich verstanden habe, kann der Heilige Vater handeln, wenn er der Ansicht ist, die vom Postulator zusammengetragenen Beweise seien ausreichend.« An den berühmten Kirchenmann gewandt, fragte er: »So ist es doch, oder?«
    »Ganz genau so, vielen Dank. Oder jedenfalls in etwa.«
    »Es gab ein zweites Wunder.«
    »Sicher. Das Problem ist, daß die Glaubenskongregation der Ansicht ist, es sei besser, noch ein oder zwei Jahre zu warten.«
    »Auf keinen Fall.«
    Der Kirchenmann zog ein Päckchen Zigaretten aus seiner Dokumentenmappe und sah Gasull fragend an. Dieser schüttelte entsetzt den Kopf, und der Mann mußte sein Päckchen wieder einstecken. Resigniert sah er sich um. Teure Gemälde, edle Möbel, reine Luft, vornehme Stille.
    »Man sollte dazu sagen, daß der erste Postulator, Hochwürden Bagà …«
    »… der frühere Dorfpfarrer …«, sagte sie, zu Gasull gewandt.
    »… und auch Hochwürden August Vilabrú, Ihr Onkel, sehr gewissenhaft und genau gearbeitet haben. Vor allem Ihr Onkel.«
    »Er war ein Mann mit großer Liebe zum Detail«, stimmte sie zu und starrte weiter vor sich hin.
    »Sind Sie gläubig?«
    Neunzehnhundertfünfundsiebzig. Tina Bros und Jordi Bofill legten im Zug, der sie nach Europa brachte, wo es sich freier atmen ließ, ihr ganzes Geld zusammen und stellten fest, daß sie damit in Paris nicht einmal in einer Pension unterkommen konnten. Zur Bestätigung küßten sie sich. Fünf Jahre zuvor hatten sie den gleichen Zug genommen, waren aber auf halber Strecke ausgestiegen, denn ihr Ziel war Taizé gewesen, eine Kerze in der Hand und den Glauben an die Ökumene auf den Lippen und im Herzen. Sie fanden wunderbare Freunde fürs Leben aus aller Welt, die sie nie wiedersahen, denn auch wenn man sich ewige Freundschaft schwört, ist es unmöglich, in Kontakt zu bleiben, wenn man selbst in Barcelona lebt und die anderen in Kairo, Helsinki oder Ljubljana, und zuletzt siegt der graue Alltag. Neunzehnhundertfünfundsiebzig. Auf der Höhe von Lyon sprachen sie über Taizé, über das Jugendkonzil und darüber, wie lange das schon zurücklag. Erinnerst du dich noch an diese Araberin? Was wohl aus ihr geworden ist? Ach ja, wie hieß sie noch mal? Und dann dieser halbe Albino aus Schweden. Nein, ich glaube, er kam aus Finnland. Ja, ich glaube, du hast recht. Und er hatte einen ganz merkwürdigen Namen. Wir waren eben noch sehr jung und haben an alles geglaubt. Ja. Ein Jugendkonzil, stell dir nur vor. Hinter Lyon faßten sie sich an den Händen, sahen hinaus in die Rhonelandschaft und sagten: »Ich, Tina, und ich, Jordi, beschließen als freieMenschen aus freiem Willen und in vollem Bewußtsein, jeglichem religiösen Glauben abzuschwören, dem wir jemals in unserem Leben angehangen haben, da wir freie Menschen sind.« »Uff, was für eine Erleichterung, Jordi.« »Also ich … Ich hatte damit schon längst nichts mehr am Hut.« »Wir sollten ein Papier unterschreiben.« »Das brauchen wir nicht. Von jetzt an haben wir unsere Ruhe.« Und dann sagte Jordi diesen schönen Satz: »Ein guter Mensch zu sein heißt nicht, daß man zur Messe geht, sondern daß man treu und ehrlich ist. Ich schwöre dir, daß ich dir mein Leben lang treu sein werde,Tina«, und Tina war so stolz auf ihren Mann gewesen, dort bei Lyon, im Zug nach

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