Die Stimmen des Flusses
anzudeuten, daß er ein Gefangener des Künstlers sei. Er war nur ein großer Mann.
Und da kam ihm der Gedanke, eine logische Konsequenz seines ersten Aufbegehrens. Natürlich dachte er an Ventureta. Aber er dachte auch an Rosa und die Tochter, die er nie kennenlernen würde. Und an Mutter Ventura, auf die er mittags am Dorfausgang getroffen war. Eigentlich war er auf ihren Blick getroffen, einen erstaunten, verächtlichen Blick, derfragte:Warum? Wie niederträchtig du bist, Lehrer. Und als er ansetzte: »Es ist nicht wahr, was über mich erzählt wird, ich habe nichts zu tun mit …«, hatte sie den Eimer, den sie trug, mitten auf der Straße stehenlassen und war in ihrem Haus verschwunden, und Oriol hatte sich so entsetzlich elend gefühlt, daß seine Angst allmählich von heftigeren Gefühlen verdrängt wurde. Und jetzt, da er vor dem großen Mann saß, verstand er, daß, wer einmal Herr der Lage ist, immer Herr der Lage ist und daß er, wenn es ihm gelänge, Herr der Lage zu sein, nichts mehr fürchten mußte. Oder fast nichts. Er erwiderte das Lachen des Bürgermeisters mit einem nachsichtigen Lächeln und griff wieder zum Pinsel. Aber er war nicht mehr derselbe Oriol, das spürte er sofort an den energischen Pinselstrichen, mit denen er die fünf Pfeile der Falangisten auf Targas blaue Hemdtasche malte. Es kommt darauf an, die Initiative zu ergreifen. Glaube ich. Naja, vermute ich. Und nicht an den Tod zu denken.
In Torena war, wenn überhaupt, nur das Brüllen einer Kuh, das plötzliche Weinen eines Kindes und das müde Ächzen eines hölzernen Karrens zu vernehmen, der in der Abenddämmerung vom Feld zurückkehrte, sowie das kurzatmige Keuchen von Elvira Lluís, die in der vordersten Bank saß und mit dem Neuner-Einmaleins beschäftigt war, mit der Ruhe dessen, der nicht weiß, daß ihm nur noch wenig Zeit zum Leben bleibt, während im traurigen Blick ihrer großen Augen zugleich das Wissen darum stand, daß es nicht stimmt, daß es im Leben für alles eine Zeit gibt. Im Carrer Fontanella in Barcelona hingegen drangen das anhaltende Geklingel eines Fahrrads, das Husten eines Eiswagens mit qualmendem Auspuff, das Knallen der auf- und zuschlagenden Türen der Oberleitungsbusse und das gebieterische Pfeifen des Verkehrspolizisten auf ihn ein, der weiter vorne, an der Plaça de Catalunya, eine Reihe dumpf dröhnender Taxis vorbeiwinkte. Oriol tat so, als wartete er auf den Bus, während er den Eingang des Geschäfts beobachtete und sichgleichzeitig umsah, ob ihm jemand gefolgt war und gemerkt hatte, daß er jemandem folgte. Als Valentí Targa aus dem Laden trat, ein Päckchen in seine Jackentasche steckte und sich auf den Weg machte – wobei er nach rechts und nach links schaute, als fürchtete er einen Hinterhalt oder hielte Ausschau nach ihm (vielleicht aber schaute er einfach nur nach rechts und links) –, folgte ihm Oriol aus einiger Entfernung auf der anderen Straßenseite. Aber gleich darauf schlängelte er sich, aus Angst, ihn zu verlieren, zwischen ein paar trägen Taxis hindurch, zog sich die Schirmmütze ins Gesicht und heftete sich an Targas Fersen. Er kam an dem klapperigen Motorrad vorbei, das ihn auf einer langen Fahrt durch die eisige Nacht von Torena hierhergebracht hatte, wandte aber sogleich den Blick wieder ab, in der abergläubischen Furcht, man könnte dem Fahrzeug den Plan ansehen, den er geschmiedet hatte, als sie während der Porträtsitzung eine Pause einlegten und er Senyor Valentí gesagt hatte, am Montag könnten sie ja mit dem Porträt fortfahren. Nein, hatte Targa lebhaft erwidert, am Montag habe er sich freigenommen, um nach Barcelona zu fahren (er senkte verschwörerisch die Stimme), und dort werde ich mich mit einer Zuckerpuppe treffen, die mich um den Verstand bringt. Er schüttelte gedankenverloren den Kopf und starrte auf die Leinwand, ohne das Porträt wahrzunehmen.
»Und du solltest das gleiche tun«, entschied er nach einer Weile, und zeigte mit dem Finger auf Oriols Herz. »Ist dir deine Frau durchgebrannt? Na, dann mach die Schule für einen Tag dicht, amüsier dich, such dir ein Rasseweib, das dich verrückt macht.«
»Vielleicht haben Sie recht«, sagte Oriol und griff nach dem Pinsel, um besser nachdenken zu können. »Warum setzen Sie sich nicht, und wir machen ein bißchen weiter?«
Während er das ruhmreiche blaue Hemd malte, dachte er, daß Targa am Montag ganz allein nach Barcelona fahren würde, weil er keine Zeugen gebrauchen konnte, und daß niemand
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