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Die Stimmen des Flusses

Die Stimmen des Flusses

Titel: Die Stimmen des Flusses Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jaume Cabré
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ihr Schmerz war zu groß, so groß, daß mein Herz übervoll ist. Als die mutigen Frauen und die wenigen beherzten Männer sich anschickten, den Friedhof zu verlassen und in ihren Alltag zurückzukehren, trat Pere Serrallac auf die Ventura zu, deren Augen hart glänzten wie Diamanten, und flüsterte ihr ins Ohr: »Ich mache einen Stein mit einem Kreuz für deinen Sohn, auf meine eigenen Kosten. Und wenn wir hier wieder frei atmen können, soll er seinen Grabstein haben – ein Geschenk des Hauses.« Und sieerwiderte, ohne ihn anzusehen: »Möge Gott es dir vergelten, Serrallac«, und ging davon, zurück in ihr bitteres Leben, um Anzeige bei der Guardia Civil zu erstatten, Anklage gegen Valentí Targa zu erheben und nach langem Warten auf einer Holzbank in der Kaserne die Ergebnisse der minutiösen Ermittlungen der Polizei zu erfahren, die ergaben, daß der Junge das unglückliche Opfer eines jener Verbrecher geworden war, die sich in den Wäldern verbargen. »Und jetzt reicht es mit Ihren falschen Anschuldigungen gegen Leute, auf die Sie schlecht zu sprechen sind. Was glauben Sie wohl, warum Sie und Ihre Familie das Dorf nicht ohne Erlaubnis verlassen dürfen?«
    »Es ist Senyor Valentí, der haßt meinen Mann wegen Malavella.«
    »Wollen Sie wegen Verleumdung ins Gefängnis kommen?«
    Die Ventura wußte nicht mehr, bei wem sie sich beschweren konnte außer bei Gott. Also nahm sie die Figur des heiligen Ambrosius, der bei ihr zu Hause stand, trug ihn zur Kirche und stellte ihn dort vor der Tür ab. Vielleicht traf den Heiligen keine Schuld, aber Gott den Allmächtigen sehr wohl. Sie bekreuzigte sich, und von diesem Augenblick an sprach sie nie wieder mit Gott.
    Pere Serrallac schaufelte das Grab zu und schlug mit der Rückseite des Schaufelblatts die Erde platt; als er sich allein wußte, nahm er aus einem alten Mörteltrog, der an der Mauer stand, ein paar frische Stiefmütterchen heraus, gelb wie das Leben und leuchtendblau wie der Himmel, und pflanzte sie in die frisch aufgeworfene Erde. Er wußte, daß er Senyor Valentí, wenn dieser ihn auf den unerwünschten Blumenschmuck anspräche, würde sagen müssen: »Also, ich bin den ganzen Tag in der Werkstatt, verstehen Sie?« Trotzdem konnte er einen Angstschauer nicht unterdrücken, als er hörte, wie die rostige Friedhofstür aufgestoßen wurde, und zwar nicht vom Wind. Als er sich aufrichtete, fand er sich der Frau des Lehrers gegenüber, die ihn keineswegs der Rechtfertigungdes Terrors durch das Pflanzen gelber und blauer Stiefmütterchen bezichtigte, sondern selbst Blumen brachte, einen Strauß hastig gepflückter, aber dennoch hübsch zusammengestellter Wildblumen. Ihrer Miene nach zu schließen, hatte sie ebenfalls geglaubt, allein zu sein. Sie kniete am Grab nieder und dachte,Ventureta, ich bin nicht vorher gekommen, weil die tapferen Frauen, die dich heute hierhergebracht haben, das nicht gern gesehen hätten. Aber ich bringe dir diese Blumen, und verzeih mir, verzeih mir, verzeih mir.
    »Vierzehn Jahre«, sagte Serrallac anklagend.
    »Es ist Mord.«
    »Das sagen Sie?«
    »Ich gehe fort«, gab sie zur Antwort.
    »Und Ihr Mann?«
    Aber sie war schon wieder aufgestanden und wandte sich zum Gehen. Sie sah Pere Serrallac an: »Danke, daß Sie ihm diese hübschen Stiefmütterchen gepflanzt haben.«
    Dann überlegte sie es sich anders, wühlte in ihrer Tasche und zog einen Geldschein hervor.
    »Bitte«, sagte sie, »lassen Sie es nie an Blumen fehlen … solange dieses Geld reicht.«
    Aber Serrallac wies das Geld entschieden zurück und versicherte ihr, dem Jungen werde es nie an Blumen fehlen. Sie lächelte schwach und sagte: »Sie sind ein guter Mann.« Dann legte sie sich andächtig die Hand auf den Bauch wie ein ehrwürdiger Kirchenmann.
    »Wohin gehen Sie?«
    »Das darf niemand wissen. Ich bin hier nicht erwünscht.«
    »Gegen Sie haben die nichts. Denk ich mal.«
    »Wer’s glaubt, wird selig.« Plötzlich wies sie mit dem Finger auf ihn: »Kann ich mich bei Ihnen melden, falls es nötig wäre?«
    »Sie können mir in die Werkstatt schreiben, das ist besser. Einen Geschäftsbrief.«
    Aus den Tiefen seiner Tasche kramte er zerknüllte, schmutzige Papiere hervor: ein Bildnis Bakunins, auf dessenRückseite die ersten Sätze aus Dieu et l’État in Esperanto gedruckt waren wie ein Gebet, einen abgelaufenen Kalender, ein Foto seines Sohnes und seiner Frau und ein Dutzend zerknitterter Lieferscheine. Mit seinen vom Steineklopfen schwieligen Händen blätterte er

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