Die Stimmen des Flusses
Ausland durch meine Hände gehen. Ich bin in die Falange eingetreten, und Valentí behandelt mich als einen der Ihren und sagt, er sei stolz auf mich, während ich sorgfältig an einem neuen Datum für seine Hinrichtung arbeite. Ich bin stolz auf mich, auch wenn ich in meinem Inneren voller Angst bin. Ich weiß, daß ich mit diesem Brief an Dich gegen alle Normen undVorschriften verstoße, die sie mir erteilt haben. Aber sollten sie mich töten, will ich nicht, daß Du im Glauben bleibst, ich sei ein Feigling. Du wirst diese Zeilen nur lesen, wenn ich tot bin und Deine Mutter sich an unser Versteck erinnert, in dem sie eines Tages einen Schatz finden würde, wie ich ihr sagte. Wenn alles gut ausgeht, meine Tochter, werde ich Dir, falls Du es mir gestattest, alles höchstpersönlich erzählen, Dir und Rosa, wenn sie mich anhören will, die Wahrheit über die Geschichte unseres Lebens und Sterbens.
Als ich sagte, ich würde akzeptieren, fügte ich hinzu, um mich noch stärker an das Versprechen gebunden zu fühlen, würde ich an Ventureta denken wie an einen meiner Schüler oder, besser noch, wie an einen Sohn. Der bärtige Mann mit den harten, kohlschwarzen Augen vergewisserte sich, daß draußen auf dem Platz niemand war, dann kam er zu mir und legte mir die Hand auf die Schulter. Erst da merkte ich, daß seine schwieligen Hände die eines Bauern waren und nicht die eines Soldaten.
»Eine gute Idee«, sagte er. »Mir hilft beim Weiterkämpfen das Wissen, daß zu meinem Unglück und zum Unglück meiner Frau Ventureta mein ältestes Kind war.«
Er verschwand schweigend, wie er gekommen war, als hätte ihn die Dunkelheit verschluckt. Und in diesem Moment wußte ich, daß ich seine Sache niemals verraten würde, und wurde zu einem echten, unsichtbaren Maquisard, ich trank weiterhin mein Gläschen Anisschnaps mit Valentí und verstand, wie seltsam es ist, jemanden zu lieben, der mich haßt, Rosa … Und andere Dinge, die Du vielleicht nie verstehen wirst, meine Tochter, die ich Dir aber, glaube ich, eines Tages erzählen werde. Oder auch nicht.
Am nächsten Tag erfuhr ich, daß ein großer Trupp Maquisards die Brücke von Hostal Nou in die Luft gesprengt hatte. Das war der Beweis, den Ventura mir versprochen hatte, und General Yuste bekam vor Wut beinahe einen Herzinfarkt. An diesem Tag dachte niemand an die Porträtsitzung.
Wundere Dich nicht über diese Schulhefte. Es war daseinzige Papier, das ich zur Hand hatte. Es sind die unbenutzten Hefte von Cèlia Esplandiu, einer der Schwestern von Joan Ventureta, die nach den Weihnachtsferien nicht in die Schule zurückgekehrt ist und einen tödlichen Haß gegen mich hegt.
Oriol löschte das Licht im Klassenzimmer, schob im Dunkeln die Tafel zurück und steckte die Hefte der kleinen Ventura in die Zigarrenkiste. Die Wahrheit seines Lebens in einer Zigarrenkiste.
26
»Mertxe Centelles-Anglesola Erill.«
»Wie bitte?«
»Ich sagte Mertxe Centelles-Anglesola Erill.«
Marcel ließ sich im Sessel nieder, das Whiskyglas in der Hand, und überlegte. In dem riesigen Wohnzimmer der Wohnung in Pedralbes, wo er seit Beginn seines Jurastudiums wohnte, wenn er nicht in Torena war, hörte man nur das Ticken der Wanduhr, deren Klang reiner, deren Holz exotischer und deren Uhrwerk solider war als das der Wanduhr in Casa Gravat in Torena. Ein bedächtiges Ticken, denn für so eine bedeutende Uhr verging die Zeit langsamer.
»Wer ist das?«
»Die Jüngste von den Centelles-Anglesolas, die in Viladrau ein Haus neben den Dilmés haben.«
»Ah ja. Und wann kommt sie, hast du gesagt?«
»Heute nachmittag.«
»Dann richte ihr einen schönen Gruß von mir aus. Ich bin nicht da.«
»O doch. Du wirst dasein.«
»Ich habe gesagt, ich kann nicht, Mamà!«
Senyora Elisenda Vilabrú stand auf und trat an die Balkontür. Sie sah nach draußen, auf Barcelona, das ferne Häusergewirr, wo Menschen, klein wie Punkte, geschäftig hin und her eilten und ihr Leben mit sich herumschleppten, und wiederholte, unendlich erschöpft, mit leiser Stimme: »Du wirst dasein und dich um sie kümmern.«
Marcel trank einen Schluck Whisky. Nie im Leben war es ihm in den Sinn gekommen, daß man sich Mamàs Wünschen widersetzen könne, wenigstens nicht offen. Man mußte es geschickt und heimlich anstellen, um zu erreichen, was manwollte. Und manchmal war auch einfach nichts zu machen. Dieses Mal trat er die Flucht nach vorn an, »Hast du etwa vor, mich zu verheiraten?«, aller Sarkasmus der Welt in dem Schluck
Weitere Kostenlose Bücher