Die Stimmen des Flusses
einem anderen durchgebrannt.«
»Nein, das stimmt nicht! Sie hat mich verlassen … aber nicht wegen eines anderen.«
»Warum hat sie dich verlassen?«
»Das geht dich nichts an.«
»O doch.«
»Sie hat mich verlassen, weil ich ein Feigling bin.«
»Ein Feigling, der sein Leben aufs Spiel setzt, um Ventureta zu rächen.«
»Kanntest du den Jungen?«
Der Mann antwortete nicht. Oriol sah auf die Straße und den Platz hinaus. Er konnte nichts erkennen, weil das Licht im Klassenraum heller war als das Licht draußen. Vielleicht stand vor dem Fenster Senyor Valentís schwarzer Wagen, und vier Uniformierte warteten mit in die Hüften gestemmten Händen darauf, daß er herauskam, um ihn mit verächtlicher Miene zu durchsieben.
»Was willst du von mir?«
»Ich will wissen, auf welcher Seite du stehst.«
»Warum?«
»Weil du uns helfen mußt.«
»Ich? Wer seid ihr?«
»Wir wollen, daß du alle Informationen, die du von Targa bekommst, an uns weitergibst.«
»Ich bin nicht … Meine Position …« Entnervt schlug er das vor ihm liegende Heft zu. »Ich sollte fliehen, bevor Senyor Valentí …«
»Nein. Du bleibst hier, spielst nach außen weiterhin Targas Freund, arbeitest aber für uns.«
»Wer seid ihr?«
»Außerdem hat unser Kommandeur beschlossen, daß die Schule von Torena als Nachrichten- und Verbindungsstelle geradezu ideal ist. Das Dachgeschoß wird uns nützlich sein.«
Torena liegt am Berghang und schaut aufs Tal hinunter. Die Schule, die Du vielleicht nie zu sehen bekommen wirst, ist das letzte Haus im Dorf. Ihre Vorderseite liegt am Dorfplatz, die Rückseite aber, an der der Schulhof liegt, geht auf den Berg hinaus.
»Woher wißt ihr, daß es hier einen Dachboden gibt?«
»Du schläfst doch in der Schule, nicht wahr?«
»Ja.«
»Ende der Woche wirst du ein paar Flüchtlinge verstecken. Sie kommen aus Holland und sind auf dem Weg nach Portugal.«
»Und wenn ich mich weigere?«
Der Schatten schlug seinen Mantel zurück, so daß Oriol den Griff der Pistole sah.
»Außerdem mußt du Valentí Targa ständig im Auge behalten. Du wirst uns alles berichten, was er dir erzählt, und du wirst uns über alle seine Bewegungen auf dem laufenden halten.«
»Ich bin doch kein Kämpfer.«
»Nach außen hin sollst du auch kein Kämpfer sein. Du wirst weiterhin der Lehrer sein, der falangistische Schweinehund und beste Freund des Henkers von Torena. Aber du wirst für uns arbeiten.«
»Senyor Valentí weiß, daß ich ihn umbringen wollte.«
»Wir glauben, daß er es nicht weiß.«
»Ich bin kein Kämpfer.«
»Ich war es auch nicht. Niemand war es vor dem Krieg.«
Der Mann ließ ein paar Sekunden verstreichen, dann fuhr er fort: »Von nun an bist du ein Soldat des Maquis. Außerdem arbeitest du für die Alliierten im Kampf gegen Nazismus und Faschismus.«
»Aber ich …«
»Du hast keine Wahl.«
So einfach war das, meine Tochter, daß ich begann, für den Maquis zu arbeiten, schweren Herzens, denn ich bin kein mutiger Mann, aber begierig darauf,Vergebung für Ventureta zu erlangen, der mit vierzehn Jahren vielleicht deshalb gestorben ist, weil ich mich Valentí Targa nicht energisch genug entgegengestellt habe. Der Kommandeur befahl mir, ganz genau so weiterzuleben wie zuvor, meinen Unterricht zu halten, mit Valentí im Café einen zu trinken, ihn auf seinen Streifzügen zu begleiten, mit der Falange zusammenzuarbeiten und dafür zu sorgen, daß niemand im Dorf den geringsten Zweifel daran hegte, daß ich ein echter Faschist war.
Mein erster Auftrag bestand darin, ein paar Holländer zu verstecken, die aus dem von den Nazis besetzten Europa fliehen mußten, weil sie Juden waren. Danach drei Männer, die vor dem Franquismus nach Norden flohen, einem anderenSchrecken entgegen, und die sich den ganzen Sonntag über auf dem Dachboden verbargen, bis es dunkel wurde. Später kam eine Gruppe von sechs Männern, die ein paar Stunden zuvor die Grenze überquert hatten und in Richtung Tal unterwegs waren. Zwei von ihnen waren britische Flieger, und alle waren hart und einsilbig und wußten, worauf es ankam, weil sie ihr Leben schon lange aufs Spiel setzten. Und ich erfuhr, daß es um ihre Sicherheit in Frankreich ebenso schlecht bestellt ist wie hier, weil die Vichy-Regierung sie an die Nazis ausliefert, wenn sie sie erwischt. Der einzige Ort, an dem sie sich wirklich ausruhen können, sind die Inseln – sie nennen sie »Inseln« –, Orte wie meine Schule, wo sie wissen, daß niemand sie finden kann,
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