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Die Stimmen des Flusses

Die Stimmen des Flusses

Titel: Die Stimmen des Flusses Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jaume Cabré
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Whisky, den er trank.
    Elisenda wandte sich zu ihrem Sohn um. Die Uhr tickte träge. Von draußen erklang der Ruf eines Lastträgers, ungewöhnlich in dieser ruhigen, vornehmen Straße. Im Hintergrund heulte ein Krankenwagen. In der Ferne pulsierte die Szenerie der Stadt.
    »Ich möchte, daß ihr euch kennenlernt.«
    »Ich habe schon eine Freundin.«
    »Ach ja? Das wußte ich ja gar nicht.«
    Noch vor dem Mittagessen hatte Marcel seiner Mutter gestanden, nein, eigentlich habe er keine feste Freundin, es sei nur eine Bekannte.
    »Du hast viele solcher Bekannten.«
    »Was ist so schlimm daran?«
    »Nichts. Aber irgendwann ist es genug. Irgendwann mußt du einmal erwachsen werden. Du bist sechsundzwanzig Jahre alt.«
    »Noch nicht ganz.«
    »Vor zwei Jahren hast du dein Studium abgeschlossen. Es wird Zeit, an etwas Nützliches zu denken.«
    Das hatte ja kommen müssen. Alles im Leben hat eine Grenze, und Marcel wußte, daß die Grenze seines Dolcefarniente an dem Tag erreicht wäre, an dem seine Mutter sagen würde: »Es wird Zeit, an etwas Nützliches zu denken« und »Es reicht, du hast dich jetzt genug amüsiert.« Es war ein harter Augenblick, und Marcel brauchte noch einen Whisky: den zweiten? Den dritten? Resigniert ließ er den Kopf hängen. Mal hören, was Mamà vorzuschlagen hatte. Den vierten.
    Der Schlußpunkt, den Senyora Elisenda für ihren Sohn gesetzt hatte, bestand darin, Mertxe Centelles-Anglesola Erill kennenzulernen, sie zu heiraten, beider Vermögen zusammenzulegen, ihr Enkel zu schenken und glücklich zu sein.Marcel kam sich vor wie ein König oder ein Kronerbe, allerdings ohne die Vorteile, die eine Krone zu bieten hatte.
    »Das heißt also, daß ich nicht heirate, wen ich will, sondern aus Gründen der Staatsräson.«
    »Wen würdest du denn heiraten wollen?« Elisenda bemühte sich, die Frage nicht bitter klingen zu lassen.
    »Ich will gar nicht heiraten, und ich bin alt genug, das zu entscheiden.«
    »Glaubst du?«
    »Ich bin beinahe sechsundzwanzig.«
    Mamà und Sohn schwiegen. Sie stand an der Balkontür, er hielt sein leeres Glas in der Hand.
    Mit seinen beinahe sechsundzwanzig Jahren hatte er mehr als genug Zeit gehabt, sich auszutoben, das Leben kennenzulernen, alles auszuprobieren und so weiter. »Wenn du das nicht getan hast, bist du selbst schuld. Und wenn du es getan hast, dann reicht es jetzt, du mußt dich zusammenreißen, heiraten und jeden Tag arbeiten, mit mir oder mit Gasull, jetzt ist Schluß damit, daß du den lieben langen Tag Pläne für neue Anlagen und schwarze Pisten machst. Du bist Rechtsanwalt und mußt hier in Barcelona im Büro arbeiten, und zwar täglich.«
    Na, großartig. Das Ticken der Uhr beruhigte ihn ein wenig und hielt ihn davon ab, eine unbedachte Äußerung zu tun, die nur kontraproduktiv gewesen wäre. Dieser Lebensabschnitt war vorüber. Er entschied sich, es mit den Whiskys gut sein zu lassen, schließlich war gerade erst Mittag. Einen Augenblick lang erwog er aufzubegehren: Nein, genug, ça suffit, Schluß, aus und vorbei, finito, finish, Mamà, da mache ich nicht mit, ich bin ein freier Mensch und heirate, wenn es mir paßt, und zwar die Frau, die mir paßt, und Punkt. Und ich werde arbeiten gehen, wenn ich mich dazu aufraffen kann. Das kann man nicht erzwingen. Wie schön war doch die Rebellion, Che und so weiter. Aber noch bevor er den Mund zum ersten Nein auftun könnte, hielt ihm der Engel der Vernunft die Liste mit den unmittelbaren Folgeneiner solchen Tat vor Augen, und das alles erschien ihm so anstrengend, daß er beschloß, erst einmal den Nachmittag abzuwarten, könnte ja sein, daß diese Mertxe gar nicht so übel ist.
    Sie gefiel ihm von Anfang an. Mertxe war hübsch, klug, wohlgeformt, strahlend, nett, diskret, sehr hübsch, ausgesprochen lebhaft, ein Engel, eine von denen, für die ich die verrücktesten Dinge tun könnte, mehr als sehr hübsch, was für eine wunderbare, vornehme Stimme, auch wenn sie dieses nasale Spanisch der Schickeria sprach. Braungebrannt vom Skifahren. Eine Göttin.
    Marcel erfuhr nie, unter welchem Vorwand Mertxe ganz allein zu ihnen gekommen war. Er wollte es auch gar nicht wissen, denn er war sofort von ihr begeistert und brauchte keinen Vorwand. Er lud sie ins Kino ein, er lud sie ein, die Skier einzupacken und das Wochenende in Torena zu verbringen, sag bloß nicht, du läufst nicht gerne Ski! Einen Moment lang sah es so aus, als würde der schöne Plan platzen, als wollte er sich bei Mamà über die Ware

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