Die Stimmen des Flusses
niederknien und sagen sollte, ich habe versucht, für dich und zum Gedenken an Ventureta zu töten, ich will, daß du weißt, daß ich die Feigheit abgestreift habe, aber ich sterbe vor Angst, Liebste, und ich muß dich sehen. Und so werde ich auch unsere Tochter kennenlernen, die Tochter eines Feiglings, der kaum noch einer ist. Nachdem er sich die Hände abgetrocknet hatte, kehrte er ins Klassenzimmer zurück, und obwohl es im Dunkeln lag, spürte er, daß jemand da war. Er stand still, mitten im Raum, und versuchte, Schatten und Gespenster auseinanderzuhalten. Draußen auf der Straße war es schon dunkel, und hier drinnen roch es noch nach Kindern. Aber es lag auch etwas Neues in der Luft, ein Geruch nach Wald und ein Blick, dunkel wie Kohle.
»Wer ist da?« fragte er.
Ein Schatten löste sich von der Wand. Im schwachen Licht der Straßenlaterne, das durch die schmutzigen Scheiben hereinfiel, zeichnete sich der Umriß eines Mannes ab, und Oriol erkannte, daß er etwas in der Hand hatte, wahrscheinlich eine Pistole. Er dachte, das war’s, jetzt ist alles aus, und ich habe Rosa nicht sagen können, daß ich kein Feigling mehr bin. Der Schatten rührte sich nicht, und so schaltete Oriol das Licht ein, und der Mann lehnte sich an die Wand, und er konnte ihn besser sehen: Er war schmutzig, wettergegerbt, in einen fadenscheinigen Mantel gehüllt. Und tatsächlich: In der Hand hielt er eine Browning, deren schwarze Mündung ihn ansah.
»Mach das Licht aus«, befahl der Eindringling.
»Wer bist du?«
Der Mann blieb an die Wand gelehnt, vor den Blicken von draußen verborgen, und zielte auf ihn.
»Was machst du jeden Tag um diese Zeit?«
»Ich korrigiere Hefte. Warum?«
»Tu so, als würdest du das jetzt auch machen, und wir reden. Glaubst du, daß jemand kommt?«
»Worüber müssen wir reden?«
»Erwartest du jemanden?«
»Nein.«
»Dann mach dich an die Arbeit.«
Der Mann hatte die Waffe noch nicht gesenkt. Oriol begann, sein Pult aufzuräumen, auf dem die Hefte seiner großen Schüler mit den Geographieaufgaben lagen: dreizehn Hefte; elf, wenn man die Hefte von Venturetas Schwestern nicht mitzählte, die leer waren.
»Wer bist du?« fragte er verwirrt. Er hatte mit einer dunkelblauen Falangeuniform gerechnet.
Der andere blieb stumm, und Oriol öffnete, um irgend etwas zu tun, die oberste Schublade und legte das Holzlineal hinein. Er ging an die Tafel und schrieb »Dienstag, 18. Januar 1944«, fast an dieselbe Stelle, an der Tina knapp achtundfünfzig Jahre später schreiben sollte, »Mittwoch, 12. Dezember 2001«, mit der gleichen säuberlichen Lehrerhandschrift, wenige Stunden, bevor die Tafel zerstört und die Schule abgerissen wurde und alle Geheimnisse ans Licht kommen sollten, die so lange verborgen geblieben waren.
»Warum wolltest du Targa töten?«
»Ich?« Er schwieg einen Augenblick und dachte, was mache ich bloß, was sage ich, mein Gott. »Ich?«
»Du«, beschuldigte ihn der Unbekannte, ohne die Waffe zu senken.
»Das ist nicht wahr. Wann denn?«
»Gestern.«
»Gestern war ich in Lleida. Im Puff.«
»Bist du nicht Targas Freund?«
»Und wer bist du?«
»Wenn du die Hefte korrigieren mußt, tu so, als tätest du’s.«
Oriol setzte sich ans Pult und schlug ein Heft auf. Der Ofen begann auszukühlen, bald würde es im Klassenzimmer eiskalt sein. Plötzlich hob er den Blick und sah den Schatten an.
»Du gehörst zum Maquis.«
»Warum wolltest du ihn töten?»
»Weil er einen Jungen aus dem Dorf erschossen hat. Er hätte mein Schüler sein können.«
»Sieht so aus, als hättest du deine Arbeit nicht gut gemacht.«
Oriol schwieg. Nein, er hatte seine Arbeit nicht gut gemacht, denn es ist schwierig, zu töten, wenn plötzliche Zweifel den Fingern in die Quere kommen.
»Was willst du von mir?«
»Du hast einen Anschlag vereitelt, der sehr wohl gelungen wäre.«
»Ich?«
»Was denkst du wohl, warum dich niemand verfolgt hat?«
»Ich verstehe dich nicht.«
»Wir haben jemanden geschickt, der so tun sollte, als wäre er hinter dir her.«
»Was habt ihr dort gemacht?«
»Wir haben auf ihn gewartet. Einmal im Monat fährt Targa zum Vögeln nach Barcelona, und dann ißt er im Vilanova zu Mittag. Er macht immer das gleiche. Wir haben auf ihn gewartet, dann bist du gekommen und hast alles ruiniert.«
»Ich …«
»Du bist Falangist.«
»Nun, ich …«
»Du bist Targas bester Freund. Alle sagen das.« Er senkte die Waffe und steckte sie ein: »Und es heißt, deine Frau wäre mit
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