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Die Stimmen von Marrakesch

Die Stimmen von Marrakesch

Titel: Die Stimmen von Marrakesch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elias Canetti
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um den Schreiber, niedergelassen hatten. Der Vater war ein alter, starker, wunderbar schön gewachsener Berber, auf dessen Gesicht alle Zeichen der Erfahrung und der Weisheit zu lesen waren. Ich versuchte, mir eine Lage des Lebens auszumalen, der er nicht gewachsen wäre, und konnte keine finden. Hier war er, in seiner einzigen Hilflosigkeit, neben ihm seine Frau, ebenso eindrucksvoll in ihrer Haltung, denn von ihrem verschleierten Gesicht blieben nur die enormen, tiefdunklen Augen frei, und auf der Bank daneben zwei junge, ebenfalls verschleierte Töchter. Alle saßen gerade und sehr feierlich.
    Der Schreiber, der viel kleiner war, nahm ihren Respekt entgegen. Seine Züge verrieten eine feine Aufmerksamkeit und diese war so spürbar wie das Gedeihen und die Schönheit der Familie. Ich sah ihnen aus geringer Entfernung zu, ohne einen Laut zu vernehmen, ohne eine Bewegung zu gewahren. Der Schreiber hatte mit seiner eigentlichen Tätigkeit noch nicht begonnen. Er hatte sich wohl vortragen lassen, worum es ging, und überlegte nun, wie es sich am besten in Worte der geschriebenen Sprache fassen ließe. Die Gruppe wirkte so geschlossen, als hätten sich alle Beteiligten schon immer gekannt und säßen seit jeher in derselben Stellung da.
    Ich fragte mich gar nicht, warum sie alle gekommen waren, so sehr gehörten sie zusammen, und erst viel später, als ich mich nicht mehr auf dem Platze befand, begann ich darüber nachzudenken. Was wirklich konnte es sein, das die Anwesenheit einer ganzen Familie vor dem Schreiber erforderlich machte?

 

DIE BROTWAHL
    Abends, wenn es schon dunkel war, ging ich zu jenem Teil der Djema el Fna, wo die Frauen Brote verkauften. In einer langen Reihe hockten sie am Boden, das Gesicht so sehr verschleiert, daß man nur die Augen sah. Jede hatte einen Korb vor sich, der mit einem Tuch bedeckt war und darauf lagen einige der flachen, runden Brote, zum Verkauf ausgestellt. Ich ging ganz langsam an der Reihe vorbei und betrachtete die Frauen und die Brote. Es waren meist reife Frauen und ihre Formen hatten etwas von den Broten. Ihr Duft stieg mir in die Nase und zugleich empfing ich den Blick aus den dunklen Augen. Keine Frau übersah mich, für jede war ich ein Fremder, der Brot kaufen kam, aber ich hütete mich wohl, es zu tun, weil ich die Reihe bis ans Ende gehen wollte und einen Vorwand dazu brauchte.
    Manchmal saß eine junge Frau dazwischen; die Brote wirkten zu rund für sie, als hätte sie sie gar nicht gemacht, und ihre Blicke waren anders. Keine, ob jung, ob alt, war lange müßig. Denn von Zeit zu Zeit nahm jede einen Laib Brot mit der Rechten auf, warf ihn leicht in die Höhe, fing ihn wieder auf, schwankte ein wenig mit der Hand, als ob sie ihn wöge, tätschelte ihn ein paarmal, daß man es hörte, und legte ihn dann nach diesen Liebkosungen wieder auf die übrigen Brote zurück. Der Laib selbst, seine Frische, seine Schwere, sein Duft, boten sich so zum Kaufe an. Es war etwas Nacktes und Lockendes an diesen Broten, die tätigen Hände der Frauen, von denen nichts außer den Augen unbedeckt war, teilten es ihnen mit. »Das kann ich dir von mir geben, nimm es in deine Hand, es war in meiner.«
    Männer gingen daran vorbei, mit kühnen Blicken, und wenn einer an etwas Gefallen fand, blieb er stehen und nahm einen Laib in seine Rechte entgegen. Er warf ihn leicht in die Höhe, fing ihn wieder auf, schwankte ein wenig mit der Hand, als wäre dies eine Waagschale, tätschelte ein paarmal den Laib, daß man es hörte, und legte ihn, wenn er ihn zu leicht befand oder aus einem anderen Grunde nicht mochte, zu den übrigen zurück. Aber manchmal behielt er ihn, und man spürte den Stolz des Laibes und wie er einen besonderen Duft verbreitete. Der Mann griff mit der Linken unter seinen Überwurf und holte eine ganz kleine Münze hervor, kaum sichtbar neben der großen Form des Brotes und warf sie der Frau hin. Dann verschwand der Laib unter seinem Überwurf - es war nicht mehr zu merken, wo er war -, und der Mann ging.

 

DIE VERLEUMDUNG
    Am liebsten stellten sich die Bettelkinder in der Nähe des Restaurants ›Kutubiya‹ auf. Hier nahmen wir alle, mittags wie abends, unsere Mahlzeiten ein, und sie wußten, daß wir ihnen so nicht entgehen würden. Für das Restaurant, das auf seinen guten Ruf hielt, waren diese Kinder kein erwünschter Schmuck. Wenn sie der Tür zu nahe kamen, wurden sie vom Inhaber verjagt. Es war für sie günstiger, sich an der Ecke gegenüber aufzustellen und uns,

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