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Die Stimmen von Marrakesch

Die Stimmen von Marrakesch

Titel: Die Stimmen von Marrakesch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elias Canetti
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spüren und die heimtückische Absicht anderer. Von Schmeicheleien war ich angetan, als hätten sie mir selbst gegolten; ich fürchtete mich in Gefahren. Alles war gebändigt, die mächtigsten Worte flogen genau so weit, wie der Erzähler wollte. Die Luft über den Zuhörern war voller Bewegung; und einer, der so wenig verstand wie ich, fühlte das Leben zu Häupten der Hörer. Ihren Worten zu Ehren waren die Erzähler auf eine auffallende Weise gekleidet. Ihre Tracht unterschied sich immer von jener der Hörer. Sie zogen prächtigere Stoffe vor; einer oder der andere trat in blauem oder braunem Samte auf. Sie wirkten wie hohe, aber märchenhafte Persönlichkeiten. Für die Menschen, von denen sie umgeben waren, hatten sie selten einen Blick. Sie blickten auf ihre Helden und Figuren. Wenn ihr Auge auf jemand fiel, der ganz gewöhnlich da war, mußte dieser sich dunkel wie jemand anderer vorkommen. Fremde waren für sie überhaupt nicht da, sie gehörten nicht in das Reich ihrer Worte. Anfangs wollte ich gar nicht glauben, daß ich sie so wenig interessiere, es war zu ungewohnt, um wahr zu sein. So blieb ich denn besonders lange stehen, als es mich schon zu anderen Lauten dieses an Lauten überreichen Platzes hinzog, aber man beachtete mich auch dann nicht, als ich mich in der großen Runde schon beinah heimisch zu fühlen begann. Der Erzähler hatte mich natürlich bemerkt, aber für ihn blieb ich ein Fremder in seinem Zauberkreise, denn ich verstand ihn nicht. Oft hätte ich viel darum gegeben zu verstehen, und ich hoffe, der Tag wird kommen, da ich diese fahrenden Erzähler so würdigen kann, wie es ihnen gebührt. Aber ich war auch froh, daß ich sie nicht verstand. Sie blieben für mich eine Enklave alten und unberührten Lebens. Ihre Sprache war ihnen so wichtig wie mir meine. Worte waren ihre Nahrung und sie ließen sich von niemand dazu verführen, sie gegen eine bessere Nahrung zu vertauschen. Ich war stolz auf die Macht des Erzählens, die sie über ihre Sprachgenossen ausübten. Sie erschienen wie ältere und bessere Brüder von mir. In glücklichen Augenblicken sagte ich mir: Auch ich kann Menschen um mich versammeln, denen ich erzähle; auch mir hören sie zu. Aber statt von Ort zu Ort zu ziehen, nie wissend, wen ich finden, wessen Ohren sich mir öffnen werden, statt im reinen Vertrauen auf meine Erzählung selbst zu leben, habe ich mich dem Papier verschrieben. Im Schutz von Tischen und Türen lebe ich nun, ein feiger Träumer, und sie im Gewühl des Marktes, unter hundert fremden Gesichtern, täglich wechselnd, von keinem kalten und überflüssigen Wissen belastet, ohne Bücher, Ehrgeiz und hohles Ansehen. Unter den Menschen unserer Zonen, die der Literatur leben, habe ich mich selten wohl gefühlt. Ich habe sie verachtet, weil ich etwas an mir selbst verachte, ich glaube, dieses Etwas ist das Papier. Hier fand ich mich plötzlich unter Dichtern, zu denen ich aufsehen konnte, weil es nie ein Wort von ihnen zu
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gab.
    Aber in der nächsten Nähe, auf demselben Platze, mußte ich erkennen, wie sehr ich mich am Papier versündigt hatte. Wenige Schritte von den Erzählern hatten die Schreiber ihren Ort. Es war sehr still bei ihnen, der stillste Teil der Djema el Fna. Die Schreiber priesen ihr Können nicht an. Sie saßen ruhig da, kleine, schmächtige Männer, ihr Schreibzeug vor sich, und nie gaben sie einem das Gefühl, daß sie auf Kunden warteten. Wenn sie aufblickten, betrachteten sie einen ohne besondere Neugier und wandten den Blick bald wieder weg. Ihre Bänke waren in einiger Entfernung voneinander aufgestellt, so daß man von einem zum anderen nicht hören konnte. Die Bescheideneren oder vielleicht auch die mehr Altertümlichen unter ihnen kauerten auf dem Boden. Hier überlegten oder schrieben sie in einer diskreten Welt, vom tosenden Lärm des Platzes umgeben und doch abgeschnitten. Es war, als konsultierte man sie über geheime Beschwerden, und da es öffentlich geschah, hatten sie sich alle etwas Verschwindendes angewöhnt. Sie selber waren kaum da, es zählte hier nur eines: die stille Würde des Papiers. Es kamen einzelne Männer zu ihnen oder Paare. Einmal sah ich zwei verschleierte junge Frauen auf der Bank vor dem Schreiber sitzen und fast unmerklich die Lippen bewegen, während er nickte und fast ebenso unmerklich schrieb. Ein andermal bemerkte ich eine ganze, überaus stolze und ansehnliche Familie. Sie bestand aus vier Menschen, die sich auf zwei kleinen Bänken, in rechtem Winkel

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