Die Strafe - The Memory Collector
guten Blick auf den Eingang. Die Triebe der Birken auf dem Rasen glänzten frühlingsgrün im Sonnenschein.
Er spürte jeden Knochen im Leib. Als ob er in einen Kampf geraten wäre. Er strich sich über die Lippe. Sie war aufgeplatzt, aber er konnte sich nicht erinnern, einen Schlag auf den Mund erhalten zu haben. Er trug nagelneue Kleider:
Jeansjacke, graues Flanellhemd, T-Shirt, Jeans, Boxershorts, Socken. Seine alten Klamotten lagen in einer Target-Tüte auf dem Boden. Sie waren klatschnass wie seine Stiefel. Auf dem Beifahrersitz in einer weiteren Target-Tüte befanden sich Post-it-Zettel, Permanentmarker und Einwegkameras. Von einem Einkauf bei Target wusste er nichts mehr.
Auf einem Post-it-Zettel am Armaturenbrett stand: Alec finden.
Offenbar saß er bis zum Hals in der Scheiße. Er hatte das Zeug nicht geliefert. Er konnte nicht, weil er es nicht hatte. Also hielt er sich an Plan B und war auf der Suche nach Alec.
Er schaute auf die Uhr. Halb elf. Das war ihm neu.
Keine Frage, er hatte ein Problem. Er merkte nicht einmal, wie die Zeit verging. Alles entglitt ihm, als würde er losgelöst von der Zeit in einer Blase existieren und von Moment zu Moment schweben. Die Welt stand ihm scharf und eindringlich vor Augen, aber er hatte kein Bewusstsein von Vergangenheit und Zukunft mehr, nur noch ein Gefühl der Gegenwart. Er fühlte sich hellwach, bei klarem Verstand und dennoch haltlos.
Er kratzte über die verschorften Schrammen an seinem Arm. Auf seiner Haut erkannte er in frischer schwarzer Tinte seine eigene Handschrift.
Sein Herz stolperte, und sein Magen krampfte sich zusammen. Er öffnete das Handschuhfach, in dem ein Fernglas lag. Er klemmte es sich vor die Augen und konzentrierte sich auf die Firmengebäude von Chira-Sayf.
Eigentlich hätte beim Eingang ein silberfarbener Mercedes
parken müssen. Nicht zu nahe, aber auch nicht zu weit entfernt. Genau im richtigen Abstand, damit die Arbeitsbienen merkten, dass der Chef die Verbindung zum Bienenstock nicht verloren hatte. Alec hätte im Büro sein und Hof halten müssen. Schließlich kamen die Leute zu ihm. Er musste die Firmenzentrale nicht verlassen. Außer vielleicht zu Gesprächen mit irgendwelchen Pentagon-Typen in Washington. Oder wenn er mit seiner Jacht segeln ging, der Somebody’s Baby. Oder wenn er nach Johannesburg flog, um ein Forschungsprojekt abzuwürgen.
Aber Kanan sah den Wagen nicht.
Und was um Gottes willen sollte er Alec überhaupt erzählen? Würden sie Rotz und Wasser heulen oder sich anbrüllen? War eine Einigung möglich?
Wieder spürte er ein Flattern in der Brust. Seine Familie. Seine wunderschöne, quirlige Misty. Sein großherziger Seth. Er war vergiftet worden und mit ihm sein ganzes Leben.
Seine Augen brannten. Er ließ die Tränen einfach fließen. Heiß spürte er den Stahl der Klinge an seinem Bein.
Aus dem Eingang des Chira-Sayf-Hauptgebäudes trat jetzt eine Frau. Jung, zwanglos gekleidet, lange, braune Locken, die im Wind wirbelten. Sein Blick wanderte zum Armaturenbrett. Neben den Post-it-Zetteln hing ein Ausweis mit Foto. Es war dieselbe Frau. Dr. Johanna Beckett.
Die Ärztin stieg in einen Toyota-Pick-up und fuhr an ihm vorbei. Er folgte ihr.
Auf der anderen Seite des Resopaltischs biss die Frau, die sich als Riva Calder ausgegeben hatte, in einen Taco. Krachend
zerbrach die Tortillaschale. Hackfleisch, Käse und Salat quollen heraus.
»Lassen Sie sich ruhig Zeit«, sagte Jo.
Sie wischte sich den Mund ab. »Sie hätte mich rausgeschmissen. Hochkant.«
»Und das ist der Grund, warum Sie mich angelogen haben, Ms. Fischer?«
Die Frau verschlang den Rest ihres Tacos und genehmigte sich drei Bissen von ihren Chicken Nuggets. Nachdem sie alles mit einem kräftigen Schluck Pepsi Light hinuntergespült hatte, betrachtete sie Jo. »Sie wirken gar nicht überrascht. Oder gehört das zu Ihrem Verhalten als Psychiaterin?«
»Ich bin nicht überrascht. Ich bin stinksauer.«
Fischer senkte den Blick. »Ich weiß auch nicht, warum ich mich darauf eingelassen habe. Einfach blöd von mir. Sobald ich Sie mit der Broschüre gesehen habe, war mir klar, dass es nicht klappen wird.« Sie griff nach ihrem Huhn, als wäre es Aspirin. Oder Valium.
Jo gab ihr Gelegenheit, sich Sorgen zu machen. »Es steht überhaupt nicht gut für Sie, zumindest was die Arbeit betrifft. Schlimmstenfalls kommt auch noch die Polizei ins Spiel. Ich kann Ihnen nur empfehlen, dass Sie mir reinen Wein einschenken.«
Fischer seufzte so tief,
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