Die Strafe - The Memory Collector
Fenster waren zugenagelt. Sie biss die Zähne aufeinander und krallte sich am Türstock fest. Die Vorstellung, auch nur eine Stunde hierher zurückzukehren, war ihr unerträglich.
»Schluss jetzt, sonst muss ich dir wieder die Hände auf den Rücken fesseln.« Murdocks Stimme klang feucht. Er hatte winzige Zähne und rosig glänzendes Zahnfleisch. »Wenn du dich wehrst oder auch nur schreist, schadest du dir nur selbst. Also spar dir den Atem. Raus kommst du auf keinen Fall, es kann höchstens sein, dass deiner Familie was passiert.«
Der junge Mann, der Vance hieß, trat ganz dicht an sie heran. »Ja, willkommen in Guantanamo, Schlampe. Du darfst dich als feindliche Kämpferin betrachten.«
Aus der Küche dröhnte Rapmusik, und der Hund bellte. Beides klang tief und zornig. Vance löste ihre Finger einzeln vom Türstock und stieß sie mit einem harten Schlag auf den Hintern über die Schwelle.
Mit erhobenen Fäusten wirbelte sie herum, um zu kämpfen, falls Vance auf sie losging und sie aufs Bett werfen wollte. Doch er stand reglos in der Tür.
»Filz sie«, befahl Murdock. »Schau nach, ob sie ein Telefon bei sich hat.«
Übertrieben breitbeinig wie ein Gangmitglied walzte Vance ins Schlafzimmer. Wie dieser magere Jüngling dazu kam, sich für den Star von 8 Mile zu halten, wusste sie nicht, aber offensichtlich hatte sein Benehmen etwas mit verzweifelter Überkompensierung zu tun.
Er drehte sie um. »Beine auseinander.«
Sie klatschte die Hände an die Wand, spreizte die Füße und unterdrückte ihren Ekel, als Vance ihre Beine abtastete. Das hatten sie jedes Mal getan, wenn sie sie wieder in das Zimmer brachten, und jedes Mal ließ dieser Scheißkerl die Hände weiter über ihren Körper wandern. Seine Finger lagen
eine Sekunde lang auf ihrem Schritt, bevor sie sich weiterbewegten. Ihr Gesicht wurde heiß.
Schließlich trat er zurück. »Sie ist sauber.«
»Keine Faxen«, mahnte Murdock. Er deutete auf eine braune Papiertüte in der Ecke. »Die Sachen sind für dich. Zieh dich um. Was du anhast, riecht nicht mehr besonders frisch.«
»Und das ist überhaupt nicht damenhaft«, fügte Vance hinzu.
Dann knallten sie die Tür zu und verriegelten sie von außen. Mit dem Kopf nach hinten sackte sie gegen die Wand.
Das war doch einfach sinnlos. Warum hatten sie sie entführt?
»Mach dir doch nichts vor«, flüsterte sie.
Natürlich hatte das alles einen Sinn. Sie war wegen Chira-Sayf hier, wegen Alec und der Forschungsarbeit, die das Unternehmen in Südafrika betrieb. Sie war wegen Ian hier und wegen der Reise, zu der er letzte Woche aufgebrochen war.
Sie wurde als Schachfigur in einer Unternehmensschlacht gefangen gehalten, die das Stadium der Absatzprognosen und Industriespionage längst hinter sich gelassen hatte. Hier ging es um Slick.
In ihrer Kehle saß ein Knoten so dick wie ein Golfball. Tränen stiegen ihr in die Augen. Sie hatte ihre Gesichter gesehen und ihre Namen gehört. Ein schlechtes Omen für ihre Zukunft.
Langsam holte sie Luft. Sie durfte nicht zusammenbrechen. Wenn sie zusammenbrach, konnte sie das Spiel, das hier gespielt wurde, auf keinen Fall gewinnen. Sie musste
die Nerven behalten und sich irgendwas einfallen lassen, um hier herauszukommen. Jetzt, da sie ihr die Handschellen abgenommen hatten, hatte sie endlich eine Chance.
Aber wie? Die Tür war aus minderwertigem Holz und hohl. Wenn sie genug Zeit hatte, konnte sie wahrscheinlich ein Loch hineintreten. Aber dann würde Murdock seine Drohung gegen ihre Familie wahrmachen.
»Eltern, Kinder, Haustiere, alle können dran glauben«, so hatte er es formuliert.
Sie wusste nicht, wo sie war. Bei ihrer Entführung hatten sie sie an den Händen gefesselt und ihr die Augen verbunden. Immerhin war sie sicher, dass sie nach Süden gefahren waren, und jetzt hörte sie häufig eine Lokomotive. Das musste der Caltrain sein, und das hieß, sie waren auf der Halbinsel.
Das Zimmer war eng und roch nach Schimmel und Feuchtigkeit. Das Haus war eine billige, alte Hütte mit billigen, alten Fenstern hoch an der Wand. Welcher bekloppte Architekt hatte es damals in den Sechzigern für eine stilvolle Idee gehalten, die Fenster im Kinderzimmer eineinhalb Meter über dem Boden einzusetzen? Sie kam sich vor wie …
Wie in einer Zelle.
Sie lachte bitter. Konzentrier dich bitte.
Sie kletterte aufs Bett und schob die Jalousie beiseite. Das Fenster war von außen zugenagelt. Das Glas in dem windigen Aluminumrahmen hatte Sprünge. Sie legte den Hebel
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