Die Strafe - The Memory Collector
dem Fenster den Rücken zuzukehren. Jo hatte ihn davor gewarnt, dass Kanan hinter ihm her war, aber die Vorstellung einer tödlichen Bedrohung hatte offensichtlich keinen Platz in seiner geistigen Landschaft.
»Bitte erklären Sie mir diese melodramatische Nachricht, die Sie bei meiner Sekretärin hinterlassen haben.«
»Es ist möglich, dass Ian Kanan Sie töten will«, antwortete sie.
»Lächerlich.«
Jo schaute ihm in die Augen, um seinen Ton, seine Haltung einzuschätzen. War er nervös, hatte er Angst? Er blieb undurchdringlich wie Stein.
»Warum halten Sie das für lächerlich?«
Er legte die Sonnenbrille auf den Tisch. »Ich meine, dass unter diesen Umständen Sie diejenige sind, die mir eine Erklärung schuldet.«
»Haben Sie noch nicht mit der Polizei gesprochen?«
»Nur wegen des Autodiebstahls. Ich komme gerade aus Montreal. Ansonsten hat man mir nichts gesagt.«
Jo lehnte sich zurück. »Haben Sie in den letzten dreißig Stunden irgendwas gehört? Zum Beispiel, dass Kanan eine Gehirnverletzung erlitten hat, die zum Verlust seines Kurzzeitgedächtnisses geführt hat?«
Um seinen Mund zuckte es, als hätte sich ein Angelhaken in seiner Lippe verfangen. »Das habe ich allerdings gehört. Und ich will mit dem Neurologen reden. Können Sie bitte bei Ians Psyche bleiben? Erzählen Sie mir, wie Sie zu dem merkwürdigen Schluss kommen, dass er zu einem gemeingefährlichen Mörder geworden ist.«
»Mr. Shepard …«
»Alec.«
»Alec, bei Chira-Sayf laufen merkwürdige Dinge. Einer Ihrer Angestellten wird vermisst. Eine zweite hat sich mir gegenüber vor zwei Stunden als jemand anders ausgegeben. Gestern hat mich Ian tätlich angegriffen. Er meint, dass er vergiftet wurde. Er hat sich eine Liste von Namen auf den
Arm geschrieben, Ihren als ersten, und dazu die Worte Sie sterben . Außerdem vermute ich, dass seine Verletzung vom Diebstahl bestimmter Substanzen aus Ihrem Nanotechnologielabor in Johannesburg herrührt.«
Shepards Augen hatten die blassgraue Farbe von schmutzigem Quarz. Für einen langen Moment taxierte er sie, so wie sie ihn taxiert hatte.
Jo bekam heiße Wangen. Das hier war keine Psychoanalyse. Sie konnte nicht wie ein Analytiker herumsitzen und darauf warten, bis Bedenken überwunden, Verbindungen gezogen und Einsichten gewonnen waren. Normalerweise vermied sie es, Menschen zur Beantwortung ihrer Fragen zu nötigen. Wenn Erinnerungen und Eindrücke ohne ihr Soufflieren artikuliert wurden, bekam sie ehrlichere Antworten. Aber Shepard mauerte einfach.
»Wer hat Ian nach Afrika geschickt?«, fragte sie.
»Wann?«
»Letzte Woche. Südafrika, Simbabwe, Sambia. Von dort kam er, als er gestern gelandet ist.«
»Von dieser Afrikareise wusste ich nichts.«
»Nein?« Jo legte die Hände flach auf den Tisch. »Warum hat Chira-Sayf das Labor in Johannesburg geschlossen?«
»Diese Frage übersteigt Ihre Befugnisse.«
»An welchen Nanotechnologieprojekten hat das Labor gearbeitet?«
»Ich dachte, Sie wollen über Ian reden.«
»So ist es auch. Erzählen Sie mir von Ihrer Beziehung zu ihm. Und bitte von Anfang an, ohne etwas auszulassen. Verraten Sie mir, ob er an einem Diebstahl aus dem Labor mitgewirkt haben könnte, ob er durch Ihr Nanoprojekt möglicherweise
kontaminiert worden ist und warum man ihn heute Morgen in der Nähe eines Mordschauplatzes am Jachthafen beobachtet hat.«
Eine Sekunde lang ließ er seine undurchdringliche Maske fallen. Seine Augen blitzten erschrocken auf. »Mord?«
»Alec, die Beamten vom SFPD versuchen schon den ganzen Tag, Sie zu erreichen. Neben der Somebody’s Baby wurde eine treibende Leiche im Wasser entdeckt. Der Mann wurde erstochen. Kurz darauf haben Zeugen gesehen, wie Ian den Jachthafen verlassen hat.«
»Das …« Er schloss die Augen.
»Alec?«
Ohne sie zu beachten, zog er sein Telefon heraus und wählte. »Jenny? Gib mir bitte die Rechtsabteilung.«
Shepard rieb sich über die Stirn. Sein Gesicht war auf einmal rot wie ein Radieschen. Hinter ihm, draußen auf der Straße, blinkte das Sonnenlicht auf vorbeifahrenden Autos. Jo merkte, dass sie mit den Kiefern mahlte.
»Bill? Hier ist Alec. Wir haben ein Riesenproblem. Warum hast du mich nicht verständigt?«
Hinter dem Strom von Fahrzeugen auf der Sixteenth Street fiel ihr etwas braunrot Glänzendes ins Auge. Ihr Blick wurde klar. Auf der gegenüberliegenden Seite parkte ein Geländewagen in der Farbe von getrocknetem Blut. Sie schaltete zurück zu dem Foto von Kanan, das die
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