Die Strafe - The Memory Collector
treffen?«
»Unbedingt. Ich habe gerade den Flughafen San José verlassen und bin jetzt auf dem Freeway 101 Richtung Innenstadt.«
»Kennen Sie den Mission District? An der Sixteenth Street gibt es ein Restaurant, Ti Couz.«
»Dann sehen wir uns dort.«
Als Murdock und Vance sie diesmal in die kalte Garage hinausschleppten, waren sie anscheinend kurz vorm Durchdrehen. Mit einem harten Stoß beförderte Murdock sie zu dem Stuhl direkt unter der nackten Glühbirne.
»Setz dich.«
Langsam ließ sie sich nieder und wischte sich das Haar über die Schulter. Physisch hatten sie sie völlig in der Hand, aber sie musste zumindest die emotionale Kontrolle bewahren, um nicht ihre Selbstachtung zu verlieren. Murdock rupfte ihr das Klebeband vom Mund. Die Hände auf die Knie gestützt, beugte er sich vor, bis sein feuchtes Zahnfleisch und der glänzende kahle Schädel auf ihrer Augenhöhe waren.
»Wo ist Ian?«, fragte er.
»Ich weiß es nicht.«
»Er erzählt dir alles, was in der Firma läuft. Er hat dir bestimmt auch gesagt, wo er hinwill.«
»Nein.«
Vance stakste heran. »Soll ich die verschärften Verhörmethoden rauskramen, Schlampe?«
Er fasste sich in den Schritt. Der Speichel blieb ihr in der Kehle hängen. Murdock scheuchte ihn weg wie eine lästige Fliege, und Vance zog sich mit breitem Grinsen zur hinteren Wand zurück, um seine herunterhängende Jeans hochzulupfen.
»Auf wen hat es Ian abgesehen?«
»Ich weiß es nicht.«
»Wie finden wir ihn?« Murdock hauchte ihr die Worte direkt ins Gesicht. Trotzdem hörte sie, was er nicht ausgesprochen hatte: Wie finden wir Ian, bevor er uns findet?
Sie hatten Angst und verloren allmählich die Nerven. Irgendwas war passiert. Der dritte Typ, der mit der extremen Akne, war nicht mehr hier. Irgendetwas hatte ihre Pläne durchkreuzt. Vielleicht irgendetwas namens Ian Kanan.
Wollen die dich da mit reinziehen? , hatte sie ihn auf dem Parkplatz von Chira-Sayf gefragt.
Wenn ja, werden sie es bereuen. Dann regle ich die Sache auf meine Weise.
Und das hatte unschöne Folgen. In ihrem Innersten jubelte sie auf.
Murdock beugte sich näher und stupste ihr die Nase ins Haar. »Wenn du mitspielst, passiert dir nichts.«
Wenigstens verlangten sie nicht, dass sie sich die warmen Kleider anzog, die sie ihr gebracht hatten, die Kleider, die nicht ihre waren, sondern die von Riva Calder. Ihr fiel ein Stück von Dave Grohl ein. Darin ging es um ein Gesicht , dem man sich stellen musste. Ein Gesicht, in dem sich der eigene Blick widerspiegelte .
»Wo ist Ian?«, hauchte Murdock.
In diesem Song kam auch noch etwas anderes vor: der Feind, der einen in die Knie zwang.
Sie schluckte ihre Angst hinunter und starrte ihm in die Augen. »Was kriege ich, wenn ich es sage?«
Murdocks Blick wurde leer. »Falsche Frage. Was kriegst du, wenn du es nicht sagst?«
Durch die Fenster des Ti Couz hatte Jo einen guten Blick auf die Sixteenth Street. Das Restaurant bot wenig Dekoration und dafür umso mehr Atmosphäre, mit seinen hohen Decken, den glänzend weiß gestrichenen Wänden und den wackeligen Tischen. Das Essen war hervorragend. Teller klapperten, freundliche Kellner schwirrten herum. Am Nachbartisch hockte ein beleibtes, bärtiges Paar und hielt Händchen. Die beiden erinnerten an Grizzlys in Hemden.
Ihr Telefon zirpte. Eine SMS von Gabe. 10 min.
Plötzlich bemerkte sie Alec Shepard, der sich auf dem Gehsteig näherte. Sie hatte sein Foto gesehen, aber sie erkannte ihn auch daran, dass er der einzige Mann in der Gegend war, der einen Anzug trug. Und nicht nur irgendeinen Anzug, sondern einen in der Farbe eines Stealth Fighters, smart und maßgeschneidert. Dazu ein makelloses weißes Hemd und eine acrylblaue Krawatte, die ihm wie ein Breitschwert auf der Brust hing. Er war ein massiger Mann mit dem Kopf und der Brust eines Bisons. Sein graues Haar und der Salz-und-Pfeffer-Bart waren kurzgeschnitten. Sein Gang strotzte vor Selbstvertrauen. Als er durch die Tür getreten war und die Sonnenbrille abgenommen hatte, musterte er den Raum mit dem gleichen unergründlichen Blick, mit dem Ian Kanan sie an Bord der 747 begrüßt hatte. Vielleicht hatte Chira-Sayf diesen Ausdruck patentieren lassen.
Sie winkte.
Er kam zum Tisch und schüttelte ihr die Hand. »Ich habe nur ein paar Minuten Zeit. Die Polizei hat mich angerufen. Anscheinend wurde heute Morgen mein neuer Navigator gestohlen, direkt von der Auffahrt.« Er setzte sich. »Was für ein Tag.«
Shepard zögerte nicht,
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