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Die strahlenden Hände

Die strahlenden Hände

Titel: Die strahlenden Hände Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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Damit der Geist sich wohl fühle, müsse man auch sein Haus, den Körper, reinigen.
    Und deshalb hatte Neroschenko etwas eingeführt, das er bei Besuchen in China überall mit größtem Staunen beobachtet und in seiner Bedeutung erkannt hatte: die Morgengymnastik. Das chinesische Schattenboxen nach Maos Befehl, jeden Morgen den Körper zu lockern, damit Kraft und Geist freier fließen.
    Zugegeben: Zunächst hatte man dumm geguckt und Neroschenko im engen Kreis einen senilen Idioten genannt, aber dann gewöhnte man sich doch daran. Jeden Morgen standen alle Mitarbeiter des Instituts im großen Hof oder, im Winter, in der hallenartigen Kantine und hoben das rechte Bein und boxten mit dem linken Arm, hoben das linke Bein und boxten mit dem rechten Arm – nicht schnell wie in einem Boxring, sondern alles in genau rhythmisierter Zeitlupe, mit exakt bestimmten Bewegungsgruppen. Ein für einen Fremden faszinierender Anblick. Lebende Marionettenpuppen, stampfende und schlagende Maschinenmenschen.
    Aber der Erfolg zeigte sich augenblicklich. Nach zwanzig Minuten Schattenboxen chinesischer Art fühlten sich alle wohler, wacher, frischer, tatendurstiger. Es gab viel weniger Ausfälle durch Streß oder Übermüdung als früher. Man durchstand den Tag in einer gehobenen Stimmung.
    »Auch das ist Psychokinese«, sagte Professor Neroschenko. »Der Mensch gelangt in eine positive psychologische Situation. Er befreit sich innerlich. Er ist bereit für energetische Strahlungen.«
    Man hatte sich wirklich alle Mühe gegeben, den Gästen aus Deutschland zu zeigen, daß Sibirien – abgesehen von den Straflagern – ein Land der Gastfreundschaft war. Es gab breite hölzerne Bettstellen mit dicken Federbetten, Decken und Murmeltierfelldecken; Polstersessel und Couchtische, Topfblumen auf Beistelltischchen, ein Radio; auf dem Boden handgeknüpfte bunte Wollteppiche, wie sie von den Nomaden hergestellt werden; Bauernschränke mit kasakischen Schnitzereien und Lampen mit bemalten Schirmen. An der längsten Wand hing in jedem Zimmer ein Foto von Lenin, überlebensgroß, in einem Holzrahmen. Ein Badezimmer befand sich auf dem Flur; um Komplikationen auszuweichen, hatte man über der Tür eine rote Lampe angebracht, die aufleuchtete, wenn jemand von innen das Schloß verriegelte. So wußte jeder: Komm wieder, Genosse. Warte noch ein wenig …
    »Sollten wir nicht alles abbrechen, Cora?« fragte Marius, als er zu ihr ins Zimmer kam. »Wenn das wahr ist, daß du … daß wir …«
    »Es ist wahr, Marius. Im nächsten Monat wird es ganz klar sein.« Sie saß auf dem Bettrand, hatte die Haare mit einem bunten Band zusammengebunden und wartete darauf, daß das Badezimmer frei würde, in dem jetzt Dr. Hambach war – er hatte die Lage sofort erkannt und den Raum wie eine Festung erobert. »Du freust dich nicht? Du hast noch nichts dazu gesagt …«
    »Ich bin wie erschlagen. Und ich werde auch erschlagen, wenn es dein Vater erfährt. Du sagst das so im Flugzeug dahin wie … wie: Guck mal da unten, da läuft ein Reh durch die Taiga … Ist das nicht eine Katastrophe für dich?«
    »Warum soll ein Kind eine Katastrophe sein, Marius?«
    »Sein Vater hat Magenkrebs …«
    »Du wirst ihn nicht mehr lange haben. Er trocknet aus. Ich spüre es in meinen Händen. Es ist wie damals bei Mamuschka: Bei jeder Behandlung werden die Stiche in meinen Handflächen schwächer. Die Krankheit zerfällt, Marius … sie leistet keinen Widerstand mehr. Die nächste Röntgenkontrolle wird das zeigen.«
    »Wenn das wahr wäre, Cora …« Seine Stimme schwankte. »Unser Kind … Du würdest mich wirklich heiraten?«
    »Aber ja. Ich liebe dich doch … den großen Maler Marius Herbert.«
    »Noch bin ich das nicht.«
    »Aber du wirst es sein. Sehr schnell. Ein kometenhaft aufsteigender Ruhm.« Sie stützte die Arme auf und lehnte sich etwas zurück. »Unser Leben wird sich sehr verändern. Wir werden uns zurückziehen. Irgendwohin, wo uns keiner kennt, wo wir in Ruhe leben können. Ein Haus, ein Garten, dein Atelier … eine kleine eigene Welt, nur für uns und das Kind. Nur Papa und Mamuschka und ein paar gute Freunde wie Onkel Ewald oder Dr. Roemer werden wissen, wo wir leben. Deine Bilder wirst du über einen Agenten verkaufen, mit dem du dich ab und zu in irgendeiner Stadt triffst.«
    »Und … und deine strahlenden Hände?«
    »Wir werden sie vergessen.« Sie schloß die Augen, warf den Kopf in den Nacken, und ihre Lippen wurden ganz schmal. »Manchmal hasse ich

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