Die strahlenden Hände
egal ob Schamane oder Heiliger, ob wundertätige Madonna oder Medizinmann der Eingeborenenvölker. Ihre christliche Kirche wird da wohl entrüstet aufschreien, aber es ist nicht einzusehen, warum ein Heiliger, der mit Handauflegen heilte, ein Auserwählter Gottes sein soll, ein Schamane jedoch, der das gleiche in einer Tungusen-Jurte tat, heute nur als billiger Magier und Scharlatan abgetan wird. Da sollte man gerecht und logisch denken!«
Dr. Boganorow holte Atem. Doerinck und Dr. Hambach blickten sich kurz an.
»Irgendwie leuchtet das ein«, sagte Dr. Hambach. »Für den, der an die Wunder der Heiligen glaubt.«
»Diese sogenannten Wunder haben tatsächlich stattgefunden und finden auch noch heute statt. Vielfach sogar. Beachtet werden sie allerdings nur, wenn sie unter kirchlichem Aspekt geschehen wie in Lourdes, in Fatima oder an anderen Marien-Orten. Außerhalb des kirchlichen Bereichs hingegen werden sie mit allen medizinischen und gesetzlichen Mitteln bekämpft.« Dr. Boganorow sah Corinna an. Dann wandte er sich Ljudmila zu. »Wenn Ihr einwandfrei als kaum noch operabel diagnostizierter Darmkrebs nicht von Ihrer Tochter, sondern in der heiligen Grotte von Lourdes geheilt worden wäre, was glauben Sie, Ljudmila Davidowna, wie die ganze Welt dieses ›Wunder‹ bestaunen würde. Und der Vatikan würde es wahrscheinlich sogar anerkennen. Da aber in diesem Fall eine solche Heilung nur durch einen Menschen erfolgte, durch eine Corinna Doerinck in Hellenbrand, bläst man von allen Seiten zur Verfolgung, zur Verleumdung und Unterdrückung. Diese absurde Doppelmoral wollen wir erschüttern! Wir wollen beweisen, daß das, was man traditionell ›heilig‹ nennt, völlig normal ist – daß aber eben nur ein paar Menschen die Gabe besitzen, gewisse Kräfte jenseits unseres bisherigen Begreifens verfügbar zu machen.«
»Dagegen sind alle Science-Fiction-Schreiber harmlose Märchendichter.« Doerinck zeigte auf seine Tochter. »Sie wollen doch wohl nicht aus Corinna eine verkappte Heilige machen?!«
»Das ist sie ja nicht! Sie ist nicht mehr und nicht weniger als eine Vermittlerin der freien, um uns herum ewig wirksamen psychokinetischen Energie, ist Empfänger und Sender eines immerwährenden Kraftfeldes, und damit Bindeglied in der Beweisführung, daß etwas Unsterbliches existiert.«
Dr. Boganorow holte wieder tief Luft. »Wir wollen das heute noch Unverständliche verständlich machen.«
»Hier im Schnee, in den Bergen des Urals, bei achtundzwanzig Grad Frost?« fragte Dr. Hambach mit deutlichem Spott.
»Das heutige Experiment ist ein Teil davon. Gerade in Rußland, bei unseren Naturvölkern, spielte der Schamane eine große Rolle. Der Forscher und Religionswissenschaftler Mircea Eliade, dem wir eine umfassende Untersuchung des Schamanismus verdanken, schrieb in seinem Buch ›Schamanismus und archaische Ekstasetechnik‹: ›Der Schamanismus ist ein par excellence sibirisches und zentralasiatisches Phänomen!‹ – Warum nun kommen wir auf dieses Schamanentum gerade bei Corinna zurück? Warum ist sie für uns interessant? Wir haben uns eingehend mit der Vorgeschichte beschäftigt, mit Ihnen, Ljudmila Davidowna, und vor allem mit Ihrem Vater, dem Arzt Dr. Assanurian. Dabei haben wir erkannt: David Semjonowitsch war nicht nur ein großer Arzt, er war auch ein Schamane.«
»Nein!« rief Ljudmila und streckte abwehrend beide Hände aus. »Das war er nicht. Verkennt nicht meinen Vater, Genossen!«
»Sie waren damals noch zu jung, Ljudmila Davidowna, um das zu begreifen. Warum sollte sich ein junges, hübsches Mädchen um das kümmern, was sein Vater macht?«
»Ich habe ihm oft in der Praxis geholfen, Injektionsnadeln ausgekocht, Tupfer geschnitten, Höhensonne überwacht, Inhalationen vorbereitet …«
»Aber Sie waren nie dabei, wenn David Semjonowitsch seine Hausbesuche machte, wenn in der Dunkelheit die hochgestellten Genossen zu ihm schlichen … ja, wir wissen alles, wir haben sogar ihre Namen erfahren.« Dr. Boganorow winkte ab. »Die meisten sind tot. Historie. Warum soll man sie jetzt noch nennen? Aber dort, bei den Hausbesuchen und den nicht öffentlichen Konsultationen, setzte Assanurian nur seine Hände ein, die bio-plasmatische Energie, die er ausstrahlen konnte. Und oft tat er das auch bei seinen normalen Patienten. Er verschrieb ihnen Placebos, harmlose Scheinmedikamente, meistens gesüßte Kalktabletten, und erzählte ihnen, wie stark sie wirksam seien. Dabei strich er über die Körper der
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