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Die Strasse der Oelsardinen

Titel: Die Strasse der Oelsardinen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Steinbeck
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ließ sie nur, wenn Freunde kamen, herab. In der Kajüte lief eine gut gepolsterte Bank die eine Längswand und die zwei Seitenwände entlang. Hier schlief er, hier saßen die Gäste. Ein Klapptisch und eine messingne Hängelampe ergänzten die Ausstattung, die ein Wunder an Einfachheit darstellte. Jede Einzelheit war das Ergebnis monatelangen Nachdenkens und Bastelns.
Henri war dunkel und grämlich von Angesicht. Lange bevor andere Menschen darauf verfielen, trug er ein Barett, rauchte eine Maiskolbenpfeife und ließ sich eine Haarsträhne ins Gesicht fallen. Seine vielen Freunde teilte er ein in solche, die er, und in solche, die ihn ernährten. Sein Boot hatte keinen Namen. Den werde er ihm geben, sobald es fertig sei, erklärte er. Zehn Jahre lebte er nun schon darin und baute daran weiter. In dieser Zeit war er zweimal verheiratet gewesen und hatte außerdem mehrere lose Liaisons gehabt. Und alle diese jungen Dinger hatten ihn aus dem nämlichen Grund verlassen. Die Kabine - sieben Fuß lang - war für zwei Personen zu klein, und es behagte ihnen nicht, wenn sie beim Aufstehen mit dem Kopf gegen die Decke stießen. Am empfindlichsten traf sie jedoch das Fehlen einer Toilette. In einem Boot im Dock läßt sich diese Bequemlichkeit nicht wie bei einem Schiff auf See anbringen und benutzen; und gegen nachgeahmte Landratten-Commodités setzte sich Henri zur Wehr. Wenn Not am Mann - oder der Frau - war, mußten sich seine Liebsten, so wie er selbst, ein wenig abseits unter die Föhren begeben. Da verschwanden sie mit der Zeit lieber ganz und für immer.
Nachdem ein Mädchen, das er Alice nannte, ihn auf diese Weise verlassen hatte, geschah Henri etwas sehr Merkwürdiges.
Jedesmal, wenn ihn eine verließ, trauerte er ihr eine Zeitlang nach, fühlte sich aber zugleich erleichtert, denn er durfte sich nun in seiner kleinen Kabine behaglich ausstrecken, konnte essen, was ihm behagte, und war endlich wieder einmal befreit von den endlosen biologischen Funktionen des Weibes.
Es war ihm zur Gewohnheit geworden, sich jedesmal, wenn ihm eine Liebste entlaufen war, eine Gallone Wein zu besorgen und ausgestreckt auf der langen Bank einen anzutrinken. Mitunter heulte er dabei etwas vor sich hin, aber der Wein, an den er sich hielt, war gut und tröstete ihn auf das angenehmste. Er las sich dann selber Verse von Rimbaud vor, laut und mit unmöglicher Aussprache, und bewunderte sich, wie fließend die Sprache dahinglitt.
Während einer solchen einsamen Abschiedsfeier für die entschwundene Alice trug sich folgendes seltsame Vorkommnis zu: Es war Nacht. Die Lampe war angezündet. Er hatte eben mit Trinken begonnen, als er mit einemmal das Gefühl hatte, er sei nicht allein. Vorsichtig hob er die Augen und sah drüben im Winkel seiner Kajüte einen unheimlichen Jüngling, jung, dunkel und schön, mit blitzenden Zähnen und glutvollen, geistvollen Augen. Etwas unendlich Anziehendes und zugleich Beängstigendes wohnte in diesen Zügen. Zur Seite des Jünglings aber saß ein kleines goldhaariges Bübchen. Der Jüngling sah zu dem Kleinen hinab, und dieser sah zu ihm empor und lachte entzückt, als erwarte er etwas ganz Wunderbares. Der Jüngling lächelte Henri an, richtete wieder den Blick auf das Kind, entnahm der oberen linken Westentasche ein altmodisches, scharfgeschliffenes Rasiermesser, klappte es auf, ließ die Klinge vor dem Halse des Kleinen aufblitzen und faßte ihm mit der Hand in die Locken, und der Kleine lachte dazu in seliger Lust. Da bog ihm der Jüngling das Kinn zurück und durchschnitt ihm die Kehle, und das Kind lachte und lachte...
Henri schrie auf vor Entsetzen und Angst. Es dauerte längere Zeit, bis er sich vergewisserte, daß der Mann und das Kind sich nicht in der Kajüte befanden. Dann stürzte er hinauf auf Deck, sprang über Bord und eilte durch den Föhrenhain weiter und weiter, lief stundenlang ziellos umher und gelangte schließlich zur Cannery Row.
Doc war im Erdgeschoß mit seinen Katzen beschäftigt, als Henri hereinbrach. Während ihm dieser in fliegender Hast von dem Geschehnis berichtete, arbeitete Doc ruhig weiter. Erst als die Erzählung zu Ende war, hob er den Blick, um zu sehen, wieviel wirkliche Furcht und wieviel Theater in Henris Augen zu finden waren. Aber da war fast nur Furcht.
»Glaubst du, es war ein Geist?« fragte Henri. »Oder ein Hirngespinst? Oder etwas, das irgendwo stattfand? Ein Freudscher Angsttraum, der aus mir hervorstieg? Oder bin ich komplett verrückt? Ich sah alles

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