Die Straße nach Eden - The Other Eden
gleich darauf wieder blass. »Es ist nicht so, wie du denkst … wie ich gedacht habe.« Sie hielt inne, hatte sichtlich Mühe, sich zu beherrschen. »Die Ärzte konnten dich anfangs nicht wach bekommen. Sie fragten mich, ob du irgendwelche Mittel eingenommen hättest, also brachte ich ihnen deine Medizin aus Boston - und die andere. Sie ließen sie untersuchen und stellten fest, dass beide Medikamente mit Belladonna versetzt waren. Die Tabletten bestanden sogar aus fast reinem Extrakt mit ein wenig Chloral darin.« Sie sah aus, als drohe sie jeden Moment zusammenzubrechen, nahm sich aber zusammen und fuhr mit ersterbender Stimme fort: »Man sagte mir, Belladonna könne Fieberschübe, Verwirrungszustände, Halluzinationen und Albträume auslösen, in hohen Dosen sogar…« Sie konnte nicht weitersprechen, sondern schlug hilflos die Hände vor das Gesicht.
»Schon gut«, beruhigte ich sie. »Ich verstehe schon.«
Endlich ergab alles einen Sinn: die allzu lebensechten Albträume, die Benommenheit, der Schüttelfrost, die Fieberanfälle, die Kurzatmigkeit und sogar der furchtbare Abend, an dem Dorian mich aufgesucht hatte und von
dem mir später ein ganzer Teil fehlte. Taschas Krankheit und die meiner Großmutter hatten zweifellos ähnliche Ursachen gehabt.
Als Mary ihre Fassung wiedergewonnen hatte, fuhr sie fort: »Das Zeug ist sowohl dir als auch Tascha an jenem Abend verabreicht worden. Tascha hatte außerdem noch eine ziemliche Dosis Chloralhydrat im Blut. Sie kann von Glück sagen, dass sie noch lebt. Nein, Eleanor, du warst die ganze Zeit sowohl körperlich als auch geistig vollkommen gesund, du hast nur unter der Wirkung der Droge gelitten.«
Die schwärmerischen Lobpreisungen von Louis’ Fähigkeiten, die ich in Eves Tagebuch gefunden hatte, kamen mir wieder in den Sinn: ein Ausnahmestudent, fast schon ein Genie, der bereits Abschlüsse in den Fächern Kunst und Wissenschaft vorweisen konnte, als er gerade einmal zwanzig Jahre alt war. Für einen Mann wie ihn musste es ein Kinderspiel gewesen sein, mich - und wahrscheinlich noch andere vor mir - mittels irgendwelcher Substanzen gefügig zu machen, so einfach wie seine Zaubertricks.
Ich seufzte. »Hör auf zu weinen, Mary.«
»Ich kann nicht dagegen an. Tascha hat mir, so gut es ihr möglich war, erzählt, was in jener Nacht passiert ist. Den Rest haben wir dem entnommen, was du im Delirium von dir gegeben hast. Seither kann ich an nichts anderes mehr denken. Ich hätte nie an dir zweifeln und ihm trauen dürfen.«
»Wir haben alle Fehler gemacht, Mary. Die Schuld liegt nicht allein bei dir.«
»Danke, dass du das sagst, Eleanor«, murmelte sie, aber ich wusste, dass meine Worte kein wirklicher Trost für sie waren.
An einem schönen Herbsttag stiegen wir in den Zug nach Boston. Tascha saß still auf Marys Schoß und betrachtete
die vorüberziehende Landschaft. Während der wenigen Tage, die wir wieder zusammen verlebt hatten, hatte sie nur wenig gesprochen, und niemals von Alexander. Anfangs schrieb ich das dem Schock zu, den sie erlitten hatte, und hoffte, sie würde über den Verlust hinwegkommen und zu ihrer alten Fröhlichkeit zurückfinden, wenn die Erinnerung an ihn zu verblassen begann. Doch der in sich gekehrte Ausdruck, der an diesem Tag auf ihrem Gesicht lag, verschwand nie wieder ganz daraus. Es hätte eine Vorwarnung für uns alle sein müssen.
Mit der nachträglichen Einsicht, die die Zeit mit sich bringt, komme ich heute zu dem Schluss, dass Tascha an dem Tag, an dem wir Louisiana verließen, bereits genau wusste, dass sie dort das zurückließ, was ihr von ihrer Kindheit geblieben war. Wenn sie darunter litt, zeigte sie es nie, weder damals noch später. Sie war ein fügsames, pflichtbewusstes Kind, das zu einer stillen, intelligenten Frau heranwuchs. In dem Jahr, in dem Hitler sich in seinem unterirdischen Berliner Bunker erschoss, schloss sie ihr Medizinstudium in Harvard ab. Sie erwähnte Alexander nur selten, und wenn, dann sprach sie von ihm wie von einem entfernten Verwandten, von dem sie zwar gehört, den sie aber nie kennen gelernt hatte.
Wie Tascha lebte auch Mary still mit ihrem Kummer, aber ich wusste, wie sehr sie darunter litt, beinahe - wenn auch unabsichtlich - meinen Tod herbeigeführt zu haben. Diese Schuld vergaß sie nie. Sie trat gesellschaftlich kaum mehr in Erscheinung, sondern konzentrierte sich lieber darauf, Tascha bei ihrem Studium zu unterstützen. Im Lauf der nächsten Jahre verschlechterte sich ihre
Weitere Kostenlose Bücher