Die Straße nach Eden - The Other Eden
Sehkraft zusehends, doch erst als sie fast völlig blind war, ließ sie sich überreden, einen Spezialisten aufzusuchen. Er bestätigte uns, was Mary schon lange befürchtet haben musste - dass der Verlust ihres Augenlichtes und ihre ständigen Kopfschmerzen
von einem bösartigen, inoperablen Tumor herrührten. Sie starb ein paar Monate vor ihrem sechzigsten Geburtstag friedlich zu Hause.
Das Jahr nach Alexanders Tod war ein Martyrium, das ich meinem ärgsten Feind nicht wünschen würde. Ich lief vor meiner Trauer davon; verschwendete nie einen Gedanken daran, wie mich die Liebe zu ihm und die Leere, die sein Verlust hinterlassen hatte, verändert hatten. Ich gab die Musik auf und begann stattdessen zu schreiben. Ich heiratete zweimal, hatte aber nie ein eigenes Kind. Eine Zeitlang war ich sowohl ziemlich berühmt als auch unendlich einsam. Es war ein hohler, auf Geschichten, die mir nicht gefielen und an die ich nicht glaubte, gegründeter Ruhm und eine in sich selbst ruhende Einsamkeit: das Ergebnis eines durch Liebe herbeigeführten Wandlungsprozesses und des Verlustes dieser Liebe, der eine durch nichts zu schlie ßende Lücke hinterlassen hatte.
Alexander hat mich auch in vieler anderer Hinsicht verändert, das habe ich erst jetzt begriffen, da ich auf mein Leben als Ganzes zurückblicken und das Muster darin erkennen kann, in dessen Mittelpunkt er steht. Vor ungefähr zehn Jahren hörte ich im Zug zufällig die auf Englisch geführte Unterhaltung eines älteren russischen Paares mit an. Sie sprachen über den Tod eines Freundes oder eines Familienmitgliedes, um was genau es sich handelte, erfuhr ich nie. Die Frau ließ sich endlos über irgendwelche krummen Geschäfte des Verstorbenen aus, bis ihr Mann sie mit den Worten unterbrach: »Ja, aber letztendlich ist er mit Musik gestorben.«
Eigenartigerweise benutzte eine russische Emigrantin, eine Freundin von Tascha, ein paar Tage später denselben Ausdruck. Sie erklärte mir, es wäre ein traditionelles russisches Sprichwort und würde bedeuten, dass irgendetwas schließlich doch noch mit Stil und Würde zu Ende gegangen war.
Eine Zeitlang zog ich Trost daraus. Ich begann, Alexander zu verzeihen, dass er mich ein zweites Mal verlassen hatte und mir einzugestehen, dass er im Tod mehr Edelmut bewiesen hatte als ich in meinem gesamten Leben. Kurz darauf begann ich mit der Aufzeichnung meiner Geschichte, die mir alles andere als leicht gefallen ist.
Jetzt, da ich fast am Ende angelangt bin, stelle ich fest, dass meine Ansichten bezüglich der furchtbaren Ereignisse damals in Louisiana erneut ins Schwanken geraten sind. Einen Moment lang glaube ich, dass Alexander absichtlich den Tod gesucht hat, um einen zerstörerischen Kreislauf zu beenden, dann wieder frage ich mich, ob er nicht doch unfreiwillig und umsonst gestorben ist. Es ist verlockend, übermäßig kritisch auf ihn, meine Liebe zu ihm und das, was ich unter dem Einfluss der Erinnerung an ihn aus meinem Leben gemacht habe, zurückzublicken, aber letztendlich führt es zu nichts. Wie jeder innere Kampf erreicht auch dieser seinen Höhepunkt in aller Stille.
Epilog
Dezember1985, Boston, Massachusetts
I ch dachte, ich hätte längst mit der Vergangenheit abgeschlossen, als Eve zum ersten Mal seit vielen Jahren wieder zu mir sprach. Sie erschien mir im Traum, wie sie es getan hatte, als ich ein kleines Mädchen war, und wies mich an, das zu Ende zu bringen, was unvollendet geblieben war.
Diesmal war mir klar, was sie meinte. Im Laufe jenes unseligen Sommers auf Eden hatten Alexander und Dorian für ihre Taten bezahlt und waren letztendlich ihrer dunklen Vergangenheit entronnen. Eve und Elizabeth dagegen war diese Erlösung verweigert geblieben.
Während ich darüber nachdachte, fiel mir etwas ein, was Alexander einmal zu mir gesagt hatte: dass ein Spuk nichts als ein ruheloser Geist ist, der keinen Frieden findet. Eve konnte niemals Frieden finden, solange ich die Vergangenheit fest in mir verschlossen hielt. Wie ich sie jedoch aus ihrem Gefängnis befreien sollte, war eine ganz andere Sache.
Einmal mehr ließ ich Erinnerungen wieder aufleben, riss lange verheilte Wunden auf, erweckte lang vergessen geglaubte Gefühle aus ihrem Schlummer, in dem sie besser versunken geblieben wären. Wieder einmal musste ich Alexander im Nachhinein Recht geben. Alles Immaterielle kann einem Menschen auf der Suche nach der Wahrheit nicht genügen.
Aber wo sollte ich nach etwas Greifbarem suchen? Ich
bin
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