Die Straße nach Eden - The Other Eden
Die Leute haben immer gesagt, ich sei eine gelungene Mischung aus ihnen beiden.«
Mary betrachtete das Foto nachdenklich. »Sie sieht unglücklich aus.«
»Vielleicht war sie damals schon krank. Oder … nun, es wurde gemunkelt, ihre Krankheit wäre nicht nur körperlicher Natur.«
Mary musterte mich einen Moment lang eindringlich, dann erwiderte sie: »William hat mir gegenüber auch einmal eine diesbezügliche Andeutung gemacht.« Sie legte das Foto rasch beiseite und griff nach dem nächsten. »Hier ist er.«
Ich nahm Marys Ablenkungsmanöver kommentarlos hin. »Er hält einen toten Fisch in die Höhe. Typisch für ihn.«
»Und hier haben wir die beiden Mädchen zusammen. Ich frage mich nur, wer dieses Foto aufgenommen hat. Sieh mal, wie die eine lächelt und die andere rot angelaufen ist.« Eve blickte mit einem koketten Lächeln direkt in die Kamera, meine Mutter wandte das Gesicht ab. Man sah deutlich, dass ihr das Blut in die Wangen gestiegen war.
»Irgendein pickliger Jüngling vermutlich«, gab ich zurück.
Mary lachte über meinen verächtlichen Ton. »Nicht alle jungen Männer sind unangenehme Zeitgenossen, Eleanor Rose«, mahnte sie, dabei studierte sie das Bild der beiden Mädchen aufmerksam.
»Aber die meisten, und Pickel haben sie auch«, schnaubte ich, spürte aber sehr zu meinem Ärger, wie ich selbst unter ihrem amüsierten Blick zu erröten begann. »Hier, schau dir die mal an.« Ich reichte ihr ein paar andere Fotos, um sie von dem heiklen Thema ›Männer‹ abzubringen.
Wir sahen den gesamten Inhalt beider Truhen durch, ohne auch nur den geringsten Hinweis darauf zu finden, was zu der verhängnisvollen Wende im Leben von Eve und Elizabeth Fairfax geführt hatte. Es war schon nach eins, als ich zu Bett ging, wo ich noch lange wach lag und ganz bewusst an Eve dachte. Doch all meinen Bemühungen zum Trotz kreisten meine Träume in dieser Nacht nur um einen Mann in einem Haus im Wald.
5. Kapitel
I n den folgenden Tagen setzte ich meine Etüdenübun gen so gewissenhaft fort, wie es mir möglich war, und zwischendurch las ich die Tagebücher vom Anfang bis zum Ende. Sie umfassten das Jahr 1898 - dasselbe Jahr, in dem das Portrait entstanden war. Sie enthielten größtenteils unbedeutende Schilderungen der Ereignisse im Leben junger Mädchen, aber ich stieß auch auf einige interessante Punkte.
Zunächst erfuhr ich, wie sich meine Eltern kennen gelernt hatten; ein Thema, über das mein Großvater nie mit mir gesprochen hatte. Es stellte sich heraus, dass sie einander bei einem Weihnachtsball in Boston vorgestellt worden waren, den die Musiklehrerin der Zwillinge veranstaltet hatte, eine ältere Dame, die sich in der guten Gesellschaft eines ausgezeichneten Rufes erfreute. Mein Vater war einer ihrer Protegés, ein aufstrebender junger Pianist aus New York. Im Tagebuch bezeichnete ihn meine Mutter einfach nur als ›R‹. Ich konnte nur vermuten, dass dieses Kürzel für ›Rose‹ stand, denn seinen Vornamen habe ich nie gekannt.
Sie hatten sich offenbar von Anfang an zueinander hingezogen gefühlt, aber meine Mutter, die gewusst haben musste, dass ihre Eltern einen mittellosen Bewerber wie meinen Vater niemals akzeptieren würden, hatte die sich anbahnende Beziehung vor allen außer ihrer Schwester geheim gehalten. Sie erwähnte ihn in ihrem Tagebuch nicht oft, aber Eve machte einige Andeutungen über heimliche Treffen und einen ständigen Briefwechsel, der seit dem Ball
zwischen dem jungen Musiker und meiner Mutter stattfand.
Beide Tagebücher beschrieben einen Frühling voller Konzert- und Opernbesuche, eigenen Auftritten der Zwillinge sowie zahlreiche andere Vergnügungen. Eve berichtete von ihren vielen Verehrern, von denen jedoch keiner großen Eindruck auf sie gemacht, sondern lediglich ihrer Eitelkeit geschmeichelt zu haben schien. Die Einträge meiner Mutter waren präziser, sie listeten in ermüdender Ausführlichkeit gesellschaftliche und kulturelle Ereignisse auf, entbehrten aber seltsamerweise eines jeglichen persönlichen Kommentars.
Als das Schulsemester der Mädchen zu Ende ging, zog die Familie nach Eden’s Meadow, um dort den Sommer zu verbringen. Und hier enthüllte sich mir endlich der Grund für Eves strahlendes Lächeln und das offenkundige Unbehagen meiner Mutter auf dem Foto, das Mary und ich gefunden hatten. Sein Name lautete Louis Ducoeur, er war ein Verwandter der Besitzer von Joyous Garde, der ehemaligen Indigoplantage in der Nachbarschaft von Eden’s
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