Die Straße nach Eden - The Other Eden
die Trennung weit stärker schmerzt, als ich gedacht hätte. Ich sehe ihn vor mir, wie er Elizabeth anlächelt und stelle mir vor, dieses Lächeln gälte mir - ach, warum quäle ich
mich selbst nur so? Warum suche ich Logik, wo es keine gibt? Liebe kennt keine Logik, aber ich werde nie verstehen, warum sie so wehtun muss. Es erscheint so lächerlich, wie wir alle drei verzweifelt hinter etwas herjagen, was wir nie bekommen werden. An Elizabeths Gefühlen ihm gegenüber wird sich nichts ändern, so viel steht fest: Sie mag zwar seine Frau werden, aber lieben wird sie ihn nie. Und ich, ihr Ebenbild, die ihm so gerne ihre Liebe schenken möchte, werde nur geduldet. Arme Lizzie. Armer Louis. Uns bleibt wohl allen keine andere Wahl, als unser jeweiliges Los auf uns zu nehmen.
Auf die nächste Seite hatte sie ein in einer anderen Handschrift eng beschriebenes Stück Papier geklebt, das an den Rändern angesengt zu sein schien. In einem Nachtrag erklärte Eve, es sei ein Teil eines Briefes von Louis an Elizabeth, das meine Tante aus dem Küchenofen gerettet hatte, in den er von meiner Mutter geworfen worden war. Er lautete:
So viele Gefühle sind in mir erwacht, so viele neue Hoffnungen geweckt worden, so viel Sicherheit und noch mehr Unsicherheit. Ich komme mir vor, als würde ich ins Bodenlose fallen; einer Zukunft entgegenfliegen, die zugleich klar und verhangen, zum Greifen nah und doch so fern ist. Es gibt so viele neue Erfahrungen zu erkunden, und es bleibt so wenig Zeit dafür. Schnee und Regen, Sonne, Meer, Himmel, Gelächter, Musik und alles, was dazwischen liegt; ein Chaos aus Gesichtern, Gefühlen, Gedanken, Welten, Liebe und Hass, das einen wilden, reißenden Strudel bildet.
Im Mittelpunkt dieses Sonnensystems, dort, wo einst Leere herrschte, gibt es nun eine Konstante: dich, mit all deiner Reinheit und Schönheit, deiner Kraft und Zerbrechlichkeit.
Wie kannst du die Augen davor verschließen, dass es dir bestimmt ist, diese Sonne zu sein, so wie es mir bestimmt ist, dich zu umkreisen? Ich weiß, dass du irgendwann einmal erkennen wirst, wie untrennbar unser beider Schicksal miteinander verbunden ist. Du musst es begreifen, denn in dir sehe ich den uralten Kreis aus Fels und Wasser, Feuer und Himmel, aus Blättern, die Knospen entsprungen sind und sich dann golden verfärben, und dies alles wird vom Glanz deines Lächelns überstrahlt, das der Schwelle zu einem Augenblick gleicht, der nie begonnen hat und nie enden wird und den wir dennoch immer wieder von Neuem durchleben…
Quäle mich! Peinige mich bis aufs Blut, aber weigere dich nicht länger, mich zu lieben…
Danach wurde die Handschrift unleserlich. Ich erschauerte angesichts der wilden, wahnwitzigen Leidenschaft, die in den letzten Worten lag, und der Kälte, mit der meine Mutter sie zurückgewiesen hatte, und legte das Tagebuch zur Seite. Dann griff ich nach dem von Elizabeth und suchte darin nach irgendeinem Hinweis darauf, dass sie die Seelenqualen ihrer Schwester bemerkt und verstanden oder das Ausmaß von Louis’ Liebe zu ihr gespürt hatte. Doch sie erwähnte die beiden nur ein Mal gemeinsam, sie stellte fest, dass Louis der erste Mensch war, der ihre Schwester erfolgreich gezähmt hatte und dass dies das Einzige sei, was sie ihm zugute hielt. Ansonsten gab es nur ein paar flüchtige Bemerkungen darüber, wie wenig sie ihn mochte und eine, in der sie ihn offen verdächtigte, mit den Gefühlen ihrer Schwester nur zu spielen.
Wie konnten die beiden Schwestern nur so unterschiedlich auf ein und denselben Mann reagieren, fragte ich mich
und wunderte mich in den nächsten Tagen, als ich die Bücher noch einmal las, immer mehr darüber. Aber keines der Tagebücher gab mir Aufschluss darüber oder beantwortete eine andere Frage, zu der mich Eves Eintragung über den schlechten Gesundheitszustand ihrer Mutter geführt hatte: ob das der Beginn der Krankheit gewesen sein konnte, an der sie schließlich gestorben war.
Ich wusste so wenig über die Vergangenheit meiner Familie, dass ich mir über den Tod meiner Großmutter nie Gedanken gemacht hatte. Mein Großvater hatte selten mit mir über sie gesprochen, und schon gar nicht über die Art ihres Todes. Während meiner Kindheit schien sie genau wie meine Eltern einer ganz anderen Welt anzugehören als der, in der ich lebte. Je älter ich wurde, desto mehr erschien sie mir wie eine Figur aus einer fernen Zeit, die für mich ungefähr so real war wie die Geschichten aus einem Märchenbuch. Das
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