Die Straße nach Eden - The Other Eden
das noch vor wenigen Stunden hier geherrscht hatte, kam mir das Cottage jetzt leer und verlassen vor. Ich spürte, wie ich wieder in meine frühere Schwermut verfiel, während ich die über den Boden zuckenden langen Schatten betrachtete. Dann raffte ich mich auf und entfernte die letzten Tücher von Spiegeln und Bildern, Tischen und Lampen. Bald war ich bis auf das Arbeitszimmer mit allen Räumen fertig. Dort gab es nur ein großes Bild, es hing über dem Spinett. Als ich nach dem Staubschutzbezug griff, fuhr ein Luftzug mit einem Geräusch, das einem gespenstischen Seufzen ähnelte, durch den Raum und wehte mir den Stoff aus der Hand. Meine Haut begann unangenehm zu kribbeln. Ich blickte mich um, um zu sehen, ob ich ein Fenster offen gelassen hatte, aber sie waren alle fest geschlossen. Zum ersten Mal wurde mir bewusst, wie allein ich hier war. Wenn ich schreien würde, würde mich niemand hören. Ich schalt mich eine abergläubische Närrin, verdrängte diesen Gedanken energisch, beugte mich wieder über das Spinett, packte das Tuch und zog es mit einem Ruck weg - und dann stockte mir einen Moment lang der Atem.
Bei dem Bild handelte es sich um ein Portrait - dem einzigen in einem Haus voller Landschaftsszenen. Es war seiner Größe und protzigen Eleganz nach zu urteilen nie dazu bestimmt gewesen, in diesem Cottage zu hängen. Es zeigte zwei Mädchen in den reich verzierten Kleidern des späten 19. Jahrhunderts. Eine trug Weiß, die andere Karminrot. Sie lächelten mich aus dem Musikzimmer von Eden’s Meadow
an, die Karminrote keck, die Weiße scheu. Die Gesichter der beiden waren von der Struktur her identisch: helle Haut, rosige Wangen, volle Lippen, kleine, gerade Nasen und dunkle, leicht schräg stehende Augen. Beide Mädchen hatten lange dunkle Locken. Die in dem roten Kleid trug das Haar offen über die Schultern fallend, die in Weiß zu einer Krone aufgesteckt, an der ich sie sofort erkannt hätte, selbst wenn der Diamantanhänger nicht um ihren Hals gelegen hätte, den ich seit ihrem Tod fast ständig getragen hatte.
Ihre Schwester trug einen identisch geschliffenen Rubin. Dieses strenge Festhalten an einer bestimmten Farbe erschien mir etwas übertrieben, bis mir der Gedanke kam, eine Lieblingsfarbe könne für zwei junge Mädchen, die ansonsten nicht voneinander zu unterscheiden waren, von besonderer Bedeutung sein. Auf einem kleinen Schild auf dem Rahmen stand: »Eve und Elizabeth Fairfax, Mai 1898«, aber der Name des Malers war nicht angegeben, und die in eine Ecke gekritzelte Signatur konnte ich nicht entziffern.
Was das Bild zu bedeuten hatte, lag auf der Hand, die Flut von Fragen, die es aufwarf, konnte ich in meinem Kopf noch nicht ordnen. Warum war Eves Existenz so sorgsam vor mir geheim gehalten worden? Um derart verleugnet zu werden, musste sie etwas Furchtbares getan haben, aber was? Und wo war sie jetzt? Wahrscheinlich tot, doch selbst das beantwortete keine meiner Fragen, schon gar nicht die, die ich mir selbst kaum zu stellen wagte: Warum hatte ich mein ganzes Leben von Eve geträumt, obwohl ich bis zum heutigen Tage gar nicht gewusst hatte, dass es sie gab?
Ich ließ mich auf den Stuhl gegenüber des Bildes sinken und überlegte, wer und wie Elizabeths Schwester wohl gewesen war. Ganz offensichtlich eine Frau mit sehr viel mehr Feuer, als Elizabeth je besessen hatte, aber ihr stummes Abbild gab mir keinen Aufschluss über ihre Geschichte.
Ich konnte im Raum auch nichts entdecken, was mir mehr über sie verraten hätte. Tief in Gedanken versunken ging ich in der hereinbrechenden Dämmerung zum gro ßen Haus zurück.
Mary war inzwischen schon wieder aufgestanden, sie unterhielt sich in der Küche mit Colette.
»Colette, Mary - hat eine von euch meine Mutter gekannt?«, platzte ich heraus.
»Ich bin erst nach meiner Heirat in das Dorf gekommen«, erwiderte Colette. »Bis Sie mich eingestellt haben, habe ich nie einen Fuß in dieses Haus gesetzt.«
Mary schüttelte den Kopf. »Ich fürchte, ich bin dir auch keine größere Hilfe. Ich habe deinen Großvater erst ein Jahr nach ihrem Tod kennen gelernt.«
Ich zog mir einen Stuhl heran und setzte mich zu ihnen an den großen Holztisch. »Hat er nie von ihr gesprochen?«
»Selten«, entgegnete Mary achselzuckend. »Und wenn, dann nur im Zusammenhang mit dir. Aber Eleanor, sie ist seit über siebzehn Jahren tot. Warum interessierst du dich plötzlich so für sie?«
»Sie hatte eine Zwillingsschwester.« Ich wusste nicht, wie ich ihr
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