Die Straße nach Eden - The Other Eden
März 1882. Der Tod deiner Mutter ist allerdings nicht aufgeführt, und über Eve steht auch nichts weiter darin. Also sind wir jetzt genauso schlau wie vorher.« Sie betrachtete die verblassten Worte einen Moment lang, dann wandte sie sich an mich. »Sollen wir uns jetzt den Dachboden vornehmen?«
Ich schüttelte die Beklommenheit ab, die mich überkommen hatte, und nickte. »Warum nicht?«
Wir zündeten Kerzen an, da es auf dem Dachboden kein elektrisches Licht gab, nahmen den Schlüsselring, der uns bei unserem Einzug ausgehändigt worden war, und stiegen die steile Treppe empor. Der Dachboden war in vier längliche Kammern unterteilt, von denen eine immer zur jeweils nächsten führte. Die erste war mit ausrangierten Möbeln vollgestopft, und ich konnte Mäuse in den dunklen Ecken herumhuschen hören. Irgendwelche Dokumente oder Bücher waren nirgendwo zu entdecken. In der nächsten Kammer fanden wir ein paar Kartons mit alten medizinischen Lehrbüchern, weitere alte Möbelstücke sowie einen großen Schrankkoffer. Wir stellten die Kerzen auf den Boden, und ich probierte einen Schlüssel nach dem anderen aus, bis ich auf einen stieß, der in das Schloss des Koffers passte.
Er enthielt vier gut erhaltene Abendkleider, die seit mindestens zwei Jahrzehnten aus der Mode waren. Darunter lag ein Brautkleid aus vergilbter weißer Seide mit einem aufwändig bestickten Mieder. Mary hob es hoch und inspizierte es genau.
»Handgenäht, aus der Zeit der Jahrhundertwende«, stellte sie fest, dann legte sie das Kleid in den Koffer zurück. Ich erwiderte nichts darauf. Eine Antwort erübrigte sich.
Wir verschlossen den Koffer wieder und gingen weiter. In der dritten Kammer stapelten sich erneut Möbel, aber keine Behältnisse für Papiere und Bücher. Die vierte war bis auf zwei in eine Ecke geschobene große Zedernholztruhen leer. Sie ließen sich mit keinem der Schlüssel öffnen.
»Wir müssen die Schlösser aufbrechen«, sagte ich.
»Lass sie uns erst einmal nach unten schaffen.«
Wir holten Colettes Mann Jean-Pierre zu Hilfe, und eine halbe Stunde später standen die beiden Truhen mit aufgestemmten Schlössern in der Bibliothek. Wie ich vermutet hatte, gehörten sie den Zwillingen. Es schien sich um Aussteuertruhen zu handeln.
»Wie hübsch!«, entfuhr es Mary, als wir uns daran machten, den Inhalt zu sichten. In beiden Truhen lagen zuoberst handgenähte Bett- und Tischwäsche, gehäkelte Bettüberwürfe, Zierdeckchen und Tischläufer. In einer Truhe waren die Sachen ordentlich gefaltet, die andere war ganz offensichtlich durchwühlt worden.
Ferner enthielten beide Konzertnoten, die älteren waren identisch, doch die späteren zeigten deutlich, in welche Richtung sich die Talente der Zwillinge entwickelt hatten. Eve hatte sowohl in Boston als auch in New Orleans viel Lob der Kritiker geerntet, während meine Mutter als junges Mädchen aufgehört hatte, öffentlich aufzutreten.
»Ich wusste gar nicht, dass sie überhaupt je Konzerte gegeben hat«, sagte ich zu Mary. »Sie hat zwar Musik unterrichtet,
aber ich kann mich nicht daran erinnern, sie je selbst spielen gehört zu haben. Ich dachte, mein Vater wäre der Musiker der Familie. Und meine Großmutter natürlich.«
In der Truhe meiner Mutter befanden sich außerdem noch Briefe, eine Mappe mit Wasserfarbenskizzen und ein paar dicke Bände, bei denen es sich um Tagebücher zu handeln schien. Eves Truhe enthielt ähnliche Andenken, aber nur ein Tagebuch und dazu ein Fotoalbum.
Wir überflogen die Briefe und ein paar Seiten der Tagebücher, doch diese endeten lange vor der Zeit, die uns interessierte. Ich legte sie beiseite, um sie später gründlich zu lesen. Die Wasserfarbenbilder waren verblasst, aber nicht schlecht gemalt. Fotografieren musste ein Hobby meiner Tante gewesen sein. Alle Aufnahmen waren schlecht entwickelt, die meisten zeigten die Landschaft rund um Eden’s Meadow.
»Das hier ist meine Großmutter.« Ich zeigte Mary eines der Fotos. Darauf war eine kleine, zerbrechlich wirkende, weiß gekleidete Frau zu sehen, die am See in einem Liegestuhl lag. Das Bild war überbelichtet, das Haar, das ihr Gesicht umrahmte, strahlte so hell wie ein Heiligenschein. Ein kummervoller Ausdruck lag in ihren Augen; ich hätte sogar den Begriff ›gequält‹ verwendet, wenn die Qualität des Fotos besser gewesen wäre.
»Sie war eine Schönheit«, meinte Mary. »Dein blondes Haar musst du von ihr geerbt haben.«
»Und die dunklen Augen von meinem Großvater.
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