Die Straße - Roman
du dreckige Sau, ich bring dich um, dich hier auszuziehen, früher hätte es so was nicht gegeben, früher haben sie hier Autobahnen gebaut!
Kaum hatte er eines der Schweine erschlagen, raunte er mir zu: Hier sind noch mehr, wir müssen noch weitere finden und erschlagen. Erst müssen wir sie finden, rief er, dann müssen wir sie erschlagen, bis die ganze Welt sauber ist, denn das ist, rief er einem fiktiven Publikum zu, was wir wollen: eine saubere und bessere Welt. Schau, da, im Busch, da regt es sich, da ist wieder einer drin.
H. lief zu dem Busch und prügelte auf ihn ein, wieder mit einer Schimpfkanonade. Wir sind hier in Friedberg, rief er, wir sind hier ordentlich, hier gibt es nicht solche Erregungen und solche Sauereien, das wird bestraft hier, das bestrafen wir selbst, wir hängen euch auf, wir massakrieren euch. Am Ende war H. selbst merklich erregt und erschöpft, er hatte sicherlich mindestens sechs oder sieben von den fiktiven Schweinen erschlagen und sagte dann, so, jetzt ist alles wieder sauber, gehen wir nach Hause.
E ines Tages lief ich in der frühen Abenddämmerung an der Usa entlang und sah in die Hintergärten im Mühlweg hinein, die auf der anderen Uferseite lagen. Es bot sich das übliche Bild. Es gab die ganz aufgeräumten Gärten mit ausgedehnter Terrasse, drum herum Rabatten, es gab die Gärten, die für Gemüse genutzt wurden, und es gab solche, in denen gearbeitet wurde und die eher einer Abstellkammer glichen. Wenn man die Abfolge der Gärten musterte, sah man zugleich verschiedene Wetterauer Jahrzehnte vor sich, mit den jeweils zeitgemäßen Versatzstücken, von uralten Bolleröfen und verrotteten Apfelstiegen über abgehalfterte Hollywoodschaukeln und ausgemusterte Autoreifen bis hin zu Basketballkörben, den ersten neumodischen Glaspavillons und den damals modernsten Gartengrillanlagen aus dem Baumarkt. Die Friedberger spazierten gern am Usa-Ufer entlang, es erstreckte sich dort eine Promenade. Im Fenster eines Hauses sah ich einen Jungen aus meiner Schule, der zwei Klassen unter mir war. Er schaute hinaus, sah mich aber nicht, ich war zu weit entfernt. Vor mir lief ein Spaziergänger, ein erwachsener Mann. DerJunge verfolgte ihn mit dem Blick. Als der Mann auf seiner Höhe war (die Usa lag zwischen ihnen), kletterte der Junge ins Fenster und setzte sich auf die Fensterbank. Er war vollkommen nackt und schaute weiterhin zu dem Spaziergänger. Er spreizte merklich die Beine, wie er im Fensterrahmen saß. Der Spaziergänger sah aber nicht hinüber. Der Junge blieb eine Weile so sitzen, dann kletterte er wieder hinein. Ich lief weiter, nach einer Weile kamen wieder ein oder zwei Spaziergänger, der betreffende Junge kletterte wieder hinaus und setzte sich hin. Das ging eine ganze Weile so. Manchmal schauten die Passanten über die Usa, manchmal nicht. Es kam mir aber so vor, als würden sie nichts bemerken. Vielleicht sahen sie, was sie sahen, dachten aber gar nicht darüber nach.
Ich sah ihn nochmal. An einem anderen Tag, Wochenende, klares Wetter, stand er im Erdgeschoß hinter der Gardine und schlug diese zurück, wenn ein Passant vorbeikam. Er hatte die Hose gar nicht ausgezogen, sondern nur heruntergestreift, sie hing ihm etwa auf Kniehöhe. Er war sichtlich erregt.
Der Junge war an sich nicht weiter ungewöhnlich, ich kannte ihn als jüngeren Bruder eines Klassenkameraden. Er galt als guter Schüler, besonders lag ihm Rechnen. Meist war er den anderen voraus. Sein Elternhaus war nicht weiter auffällig. Man sagte, daß er eine Menge Batman- und Spiderman-Comics zu Hause hatte und viel über diese Heftserien wußte. Vielleicht war er ein ähnlicher Fachmann darin wie mein älterer Bruder für die Heftserie Perry Rhodan. Ich erinnere mich daran, daß ich einmal – vielleicht zwei Jahre nachdem ich den Jungen im Fenster gesehen hatte – bei einer Busreise zu einem Tagesausflug ins Atomkraftwerk Biblis neben ihm saß (wir wurden damals alle ins Atomkraftwerk geschickt, weil wir uns von frühauf für diese Technik interessieren und eine Begeisterung für sie entwickeln sollten). Er hatte ein Spidermanheft dabei und las die halbe Fahrt über darin. Im Atomkraftwerk war er sehr aufmerksam und stellte einige Fragen. Besonderen Kontakt zu Mädchen schien er nicht zu haben. Es war ein ganz normaler Junge, der dort im Fenster stand, abgesehen davon, daß er eben im Fenster stand, allein mit sich und vor seiner Umwelt. Etwas daran faszinierte mich. Natürlich war er seitdem für mich
Weitere Kostenlose Bücher