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Die Straße - Roman

Die Straße - Roman

Titel: Die Straße - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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machen?
    Ich sagte daraufhin, ich würde … keine Ahnung   … ich würde mit ihr herumlaufen. Ich würde sie anschauen. Wir würden vielleicht Hand in Hand herumlaufen.
    Der Junge lachte. Er lachte etwas herablassend. Er meinte es aber offenbar nicht böse mit mir.
    Beschreibe sie mir doch mal, ich habe den Film nicht gesehen.
    Nun, sie ist … sie hat so lange blonde Haare, und ganz blaue Augen.
    Lange blonde Haare, blaue Augen, so.
    Sie trägt einen dicken Rock und weiße Strümpfe und hat … die Nase ist eigentlich ganz schön. Und die Augen sind sehr groß, wenn sie einen anschaut.
    Sag mal, weißt du eigentlich, was Jungen und Mädchen zusammen machen?
    Ich konnte diese Frage nicht beantworten. Das heißt, ich hätte darauf alles mögliche antwortenkönnen. Ich begriff den Sinn der Frage nicht, da man gemeinhin nach so Allgemeinem nicht fragte. Er hätte auch fragen können, wohin kann man mit dem Fahrrad fahren. Dann hätte ich geantwortet, überallhin, von Calais bis Wladiwostok.
    Du meinst also, du willst mit ihr so über die Wiese laufen, so Händchen haltend. Willst du sie auch küssen?
    Weiß ich nicht. Warum?
    Und wenn du dann mit ihr zusammen wärest, dann fühlst du dich doch wahrscheinlich ganz anders?
    Ich weiß nicht.
    Ich weiß es aber ganz genau. Du willst sie ficken.
    Jetzt war das Wort gefallen. Ich kannte es zwar, aber ich hatte keine rechte Vorstellung, was er damit meinte. Ich konnte das weder bejahen noch verneinen.
    Du willst deinen Schwanz in sie hineinstecken.
    Ich konnte dazu nichts sagen. Mir fiel nicht ein, daß das, rein technisch gesehen, bei der Menge von Unterröcken, die Alice trug, gar nicht so leicht möglich wäre – mir fiel nicht einmal ein, daß das überhaupt etwas mit den Röcken zu tun haben könnte. Ich hatte noch kein organisches Bild vor Augen, bekam es jetzt aber auf meinem Wandertag durch genaue Erklärung. Durch eine genaue Erklärung in Kinderworten. Man würde also zwar zuerst vielleicht wirklich über die Wiese laufen, aber dann würde man sich ausziehen, weil ohne das es nicht gehe, man komme sonst nicht heran, und dann steckt man sich ineinander und liebt sich sehr stark. Daß auf diese Weise Kinder entstehen, also daß bei mir und Alice Kinder entstehen würden, wenn wir über die Wiese liefen, uns dann auszögen und hineinsteckten (vorne) und liebten, das erfuhr ich auch sofort gleich mit. Es schien mir das noch im gleichen Augenblick (auch wenn ich dem Jungen nicht gerade traute) übrigens die erste wirklich wahrscheinliche, wenn auch völlig unerwartete Erklärung für ein Problem, das sich mir bislang überhaupt nicht gestellt hatte. Junge ist anders als Mädchen, er hat was, wo sie ein Loch hat, beides paßt also ineinander, etwa wie Legobauteile mit Stecksystem, und daraus wachsen dann irgendwie, aufgrund der starken Liebe beim Stecken, Kinder, neue Menschen, die anderen heran.
    So führte mich Alice also ins Wunderland. Hätte ich vorher Mary Poppins geschaut, wäre es vermutlich auf dasselbe herausgekommen, auch wenn Mary Poppins schon viel älter als Alice war. Jahrzehnte später sollte es dann poppen heißen.

I n den Wochen, die auf den Kinobesuch und diesen Wandertag folgten, sah ich mich mehreren Mißverständnissen ausgesetzt, die ich allesamt überhaupt nicht kapierte. Was ich tat, war plötzlich andauernd falsch, einmal mußte sogar meine Mutter in die Schule kommen, da die Direktorin sie auf eine seltsame, zuchtlose Verhaltensweise meinerseits hinweisen wollte. Es begann zunächst auf meinem Fahrrad. Oder anders gesagt, es begann in meinem Kopf. Manchmal in diesen Jahren hängte sich mein Kopf an irgendwelchen Worten auf, die ihm merkwürdig oder absonderlich oder einfach fremd und interessant erschienen, dann sprach ich dieses Wort immer vor mich hin oder sang es in irgendwelchen Melodien, einfach um diesem Wort näherzukommen und mich an es zu gewöhnen. So fuhr ich ein paar Tage auf meinem Fahrrad durchs Barbaraviertel, eigentlich recht glücklich über ein nicht wirklich neu gefundenes, aber neu erklärtes Wort, das nun erstmals rechtmäßig zu meinem Sprachschatz gehörte, und rief immer wieder beim Fahren geradezu begeistert das Wort Ficken vor mich hin, wiederholte es, gab ihm verschiedene Rhythmen, skandierte es, mal schneller und mal langsamer, sang und psalmodierte es und schmetterte es durch unser Viertel wie morgens der Zaunkönig am gegenüberliegenden Usa-Ufer seine Strophen über die dortigen Schrebergärten. Wenn ich an

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