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Die Straße - Roman

Die Straße - Roman

Titel: Die Straße - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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des Handelns in die Hand genommen zu haben. Glücklicherweise ist nichts passiert. Sie hättenja auch jemandem den Garaus machen können. Das mußten sie aber nicht. Und es wäre auch nur aus Zufall oder Unüberlegtheit geschehen. Oder besser gesagt, es wäre gar nicht geschehen, weil die anderen den Betreffenden ja wohl zurückgehalten hätten. Oder sie hätten alle gemeinsam plötzlich und wie verabredet im Blutrausch auf den Kinderschänder eingehackt. Und so gelangen sie nach Hause, noch unter Adrenalin, und kommen erst langsam auf Normallevel herunter, der eine setzt sich in seinen Sessel und öffnet ein Bier, der andere widmet sich dem Blauen Bock (den schaute mein Vater auch gern, besonders beliebt war, wenn Chöre junger, zwölf- oder dreizehn- oder vierzehnjähriger Mädchen auftraten, dann bekamen die Barbaraviertler Stielaugen infolge dieser Frische und Natürlichkeit, und weil das einfach so schön war, wie sie sagten), ein anderer steht bei seiner Frau in der Küche, erkundigt sich nach dem Abendessen und überlegt dabei, ob er nicht noch einmal in den Keller oder in die Garage gehen soll, wo sich die Werkstatt befindet und man seine Ruhe hat und übrigens auch die Magazine versteckt sind, die regelmäßig einmal am Tag benutzt werden, sonst wäre es kein Leben. Und einer, ohnehin schon endgültig zerstritten mit der Ehefrau, geht sowieso zum Dicken Turm, weil heute Freitag oder Samstag ist, denn er geht immer freitags oder samstags zum Dicken Turm, da trifftman sich, und auch die halbe obere Stadtverwaltung ist dann da, in den Burgstuben , das heißt der männliche Teil. Dann ist die Welt für einige Stunden wieder in Ordnung und eigentlich, wie sie sein soll, und alle Taxifahrer in Friedberg wissen, daß sie an diesem Abend jeden Fahrgast sofort vergessen haben werden, kaum ist er ausgestiegen und hat sein immenses Trinkgeld dagelassen. Manche lassen sich sogar eine Spesenquittung schreiben. Die wird dann als Geschäftsausgabe angesetzt. Und vielleicht läuft ja im Spätprogramm gerade heute, als runder Abschluß für den Tag, auch noch der Tatort Reifezeugnis .
    Die Wetterauer Zeitung berichtete anschließend ordnungsgemäß über die männliche Person im Gebüsch, die sich entblößt hatte. Ich glaube, irgendwann in den Folgewochen wurde jemand im Kurpark in Bad Nauheim aufgegriffen. Ob man ihn in der Stadt kannte, weiß ich nicht. Ich war damals noch jung und malte es mir nicht groß aus. Vielleicht interessierte es mich auch gar nicht weiter, weil es im Grunde gewöhnlich war. Jeden Tag war all das immer überall gegenwärtig, in allen Farben und Schattierungen, von den Kindern bis hin zu den Barbaraviertlern vor ihren Fernsehern oder in ihren Kellern und Garagen, und ganz am Ende der Kette gab es dann mit regelmäßiger Notwendigkeit jemanden in der Zeitung, der den Mantel geöffnetoder sich anderweitig in irgendeiner Weise zum Perversen gemacht hatte, als Schlußglied und öffentlich. Hin und wieder auch ein GI-Vergewaltiger. Das gehörte immer unbedingt dazu, immer mußte einer der »Wer hat Angst vor dem bösen Mann«-Mann sein, wenigstens alle paar Wochen oder Monate. Immer mußte jemand her, vor dem man Angst haben konnte. Ich lebte, ohne es zu wissen, in einer kompletten Sexwelt, nur daß es das Wort gar nicht gab, und auch heute ist es nur in lateinischer Medizinersprache ausdrückbar und hat keinen eigenen Wortlaut. Es gab überhaupt keine Sprache dafür, denn es war omnipräsent und lag allem zugrunde, und die gemeinsame Verabredung war – die Kinder, die steckten, hatten das noch nicht gelernt –, daß all das nicht existierte und nie zur Sprache kommen würde, nur eben in Form des ganz Bösen, das dann aber auch nur das »ganz Böse« genannt wurde, ohne weitere Inhaltsangabe des Böseseins, abgesehen davon, daß die Kinder verzehrt wurden oder dieses Böse immer etwa so aussah wie Gert Fröbe.
    H. lief einige Tage später unter dem Viadukt entlang und stellte die Jagd auf das Monster noch einmal ganz privat für sich nach. Er klingelte bei mir, dann zogen wir los, ich hinter ihm her. H. hielt zuerst eine große ironische Brandrede gegen die Gefahr durch Menschen, die sich öffentlich nackt darstellten, und gegen die Untätigkeit der Polizei. Ausseinem Mund klang das alles so absurd, wie es in Wirklichkeit natürlich auch war. Dann brach er sich einen Ast ab, nahm ihn als Knüppel, sprang damit hinter Büsche und in dunkle Winkel hinein und rief theatralisch: Hab ich dich, du Schwein,

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