Die Straße - Roman
ein anderer als vorher, aber ich sprach mit niemandem darüber, und mit ihm auch nicht. Es war sein öffentliches Geheimnis.
Übrigens war der Übergang von dem, was die Mädchen taten, hin zu dem, wie der Junge im Fenster stand oder auf seiner Fensterbank saß, für mich nicht schwer nachzuvollziehen. Ich war ja, wie gesagt, einige Jahre zuvor daran gewöhnt gewesen, daß die Mädchen mich irgendwo hinzogen, plötzlich ihre Röckchen hoben oder ihre Kinderhosenfallen ließen und dann nach einem Moment schreiend und lachend davonstoben. Den Jungen im Fenster verstand ich besser als sie. Die Mädchen hatten mich ja bloß dominiert mit ihrem Rockgehebe, ich war sozusagen ihr Opfer gewesen, denn sie hatten mich bloß dafür gebraucht, daß sie anschließend schreiend loslachen und wegrennen konnten, weil es ihnen eine Lust verschafft hatte, mir, dem Kleineren, zu zeigen, was sie hatten. Es war ja nicht einmal eine Gefahr für sie dabeigewesen. Es war die bequemste Variante. Der Junge im Fenster dagegen wagte etwas. Er wirkte, wie er dastand, aus der Welt gefallen. Ich sehe ihn bis heute vor mir. Es war wie ein erster Schmerz, wie der erste hilflose Schmerz.
Der nackte Junge stammte aus der anderen Welt, dieser Welt, die überall da war und hinter der normalen hervorschien. Es war diese Welt, in der man sich Dinge hineinsteckte, sich zeigte, sich mit Knüppeln bewaffnete, sich in die Büsche schlug, und ich zählte den nackten Jungen ganz selbstverständlich zu ihr. Daß er allein war, nicht wie die Freundinnen meiner Schwester in der Gruppe, und daß er sich den ganz Unbekannten zeigte, war für mich sogar noch eher nachzuvollziehen, weil es zeigte, daß er nicht in dem Sinne normal funktionierte wie die anderen, sondern daß da mindestens eine Traurigkeit oder Einsamkeit zugrunde liegen mußte, irgend etwas Unfunktionierendes, wie ich es von H. und seiner Familie kannte. Also der Familie, in der man nie die Hosen ausgezogen hätte, weil jeder gewußt hätte, was das bedeutet. Daher war ein nackter Junge im Fensterrahmen für mich nichts Unbegreifliches. Er sah übrigens völlig normal aus, es hätten auch H. oder ich sein können.
E ines Tages, ein paar Jahre vor dem Jungen im Fenster und dem Geschehen am Viadukt, war ich im Kino gewesen. Es war noch zur Grundschulzeit. Ich weiß nicht mehr, mit wem ich hingegangen war, vermutlich mit meinem Bruder. Wir sahen eine mir unbekannte Geschichte, Alice im Wunderland , den Zeichentrickfilm aus den Walt Disney Studios. Mein Bruder und ich waren ein ungleiches Kinogespann, denn er war fünf Jahre älter als ich. Durch ihn kam ich vergleichsweise früh ins Kino, und er war aus der Zeit, in der man Filme für Kinder sah, vielleicht noch nicht ganz herausgewachsen, obgleich er sich schon seit längerer Zeit in seinen Science-Fiction-Welten bewegte. Vielleicht war es auch ganz anders, und er hatte Lewis Carroll bereits gelesen und das Buch selbst schon ganz ernst genommen, nicht nur als Aneinanderreihung phantastischer Episoden, sondern als Spiel mit der Aufhebung unseres Raum-Zeit-Kontinuums und als analytische Verspottung unserer unreflektierten Alltagslogik. Möglicherweise hatte er den Film auch nur deshalb ansehen wollen, weil eine Folge der Fernsehserie Raumschiff Enterprise auf die Illustrationen in Lewis Carrolls Alice im Wunderland und den Film Bezug nahm, also aus quasi quellenforscherischem Interesse.
Ich saß im Kino und war gebannt. Um mich herum der riesige Saal mit seinen roten Plüschpolstersesseln und seinen roten Plüschtapetenwänden, es wurde dunkel, die alte Platzanweiserin lief noch mit ihrer Taschenlampe auf und ab und zeigte den Nachzüglern, wo sie sich hinsetzen könnten, dann ging der Vorhang auf, und der Film begann.
Das Kino hatte für mich eine anheimelnde, aber auch abenteuerliche Atmosphäre. Die meisten Filme, die dort liefen, waren nichts für mich und gingen mich nichts an. Es waren Dinge, die ich erst später verstehen sollte. Damals hing zum Beispiel Emmanuelle als Plakat in den Auslagen, auf dem Plakat sah man Frauen, und darunter stand Einlaß ab 16 Jahre . Vielleicht stand da auch Einlaß ab 18 Jahre . Beides war für mich dasselbe, der Unterschied zwischen 16 und 18 Jahren war für mich damals nicht anders als der zwischen 60 und 80 Jahren. Diese Filme waren etwas für andere. In den Filmen mit Einlaß ab 16 oder 18 Jahre ging es einerseits, soviel wußte ich, um Abenteuer, Mord und Brutalität, sie waren meistens mit Clint Eastwood und
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