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Die Straße - Roman

Die Straße - Roman

Titel: Die Straße - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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regelrecht zu kurz, wenn sie sich auf die Rundung der Taille legten, wie bei einem überfressenen Kaninchen, als seien sie bloße Rudimente oder als seien sie Flossen. Darüber hinaus war er sehr blaß, fast so weiß wie ein Mensch ohne Pigmente. Auch seine Haare waren sehr hell, ein mattes Strohgelb, sie hingen dünn und kraftlos herunter, er hatte einen Topfschnitt. John trug immer Sandalen – in Schuhe kam er nicht gut hinein. Zu Hause bei uns hüllte er sich oft in einen Bademantel. Da zu dieser Zeit meine Mutter meist einen Morgenrock trug, war das natürlich absurd, beide ergaben zusammen eine Hausrockparade, wenn sie am Frühstückstisch saßen. Und John konnte sehr lang am Frühstückstisch sitzen, wenn er keine Schule hatte.
    Ich weiß noch, daß ein früher Eindruck, den ich von ihm hatte, der war, daß er sich in seiner Kleidung nicht wohl fühlte. Wenn er Hose und Hemd trug, vermittelte er dem Betrachter das Gefühl, etwas würde ihn zwicken, die Kleidung sei ihm insgesamt eine Last. Er sah zwar nicht in seine Kleidung hineingestopft aus, denn sie war weit genug. Aber er war sozusagen in sich selbst und seinen eigenen Körper hineingestopft, vielleicht kam daher der Eindruck. Übrigens darf man in John Boardman nicht die Form von Fettheit sehen, die wir heute klischeemäßig mit den Vereinigten Staaten verbinden. So schlimm war es nicht. Im Vergleich dazu sah er sogar fast harmonisch aus in seiner seltsamen Verbindung von Dickheit, Blässe und Jugend.
    Am liebsten war er nackt. In den ersten Tagen lief er öfter so durch den oberen Stock. Das machte alle fassungslos, vor allem meine Mutter, sie war jadie meiste Zeit zu Hause und bekam ihn am häufigsten mit. In der Tat lief er immer dann nackt über den Gang, wenn er gerade aus der Dusche kam (er duschte oft). Er gewöhnte sich aber auf Geheiß meiner Mutter bald an ein Handtuch und lief fortan wenigstens mit einem solchen umgürtet durch den oberen Stock. Trotzdem versuchte die Familie, ihm möglichst gar nicht da oben zu begegnen. Er hatte das Zimmer zu seiner Verfügung, das auf den großen Balkon über der Garage ging. In diesem Zimmer befand sich die Bibliothek meiner Mutter, und dort hatte in den ersten Jahren des Hauses immer Frau Däschinger gearbeitet, unsere Nähfrau. Jetzt war es Johns Zimmer.
    Er sollte nur ein paar Tage bleiben. Wie gesagt, höchstens ein, zwei Wochen. Es wurde ein Jahr.
    Sein Lieblingsraum war die Küche, und das Wichtigste im ganzen Haus war der Kühlschrank. Als ich am Tag nach seinem Einzug nach Hause kam, sah ich ihn das erste Mal essen. Mein Vater hatte ihn an diesem Morgen in unserer Schule vorgestellt. Seltsamerweise hatte John Boardman während seines dreiwöchigen Aufenthalts in Reichelsheim oder Wölfersheim keinerlei Schulunterricht genossen, obgleich der Schulbesuch Hauptbestandteil des ganzen Gastelternprogramms war. Offenbar hatte sich sein bisheriger Gastvater einfach nicht darum gekümmert. Nach dem Gespräch mit dem Direktor hatteihn mein Vater bei meiner Mutter abgeliefert, aber diese war irgendwann geflüchtet, und so hatte ich John allein in der Küche gefunden.
    Er saß am Tisch. In der Küche herrschte eine ungewohnte Unordnung. Die Brotmaschine stand nicht wie sonst auf der Arbeitsfläche, sondern auf dem Tisch, neben ihr ausgepacktes Brot, die Butterdose, Frischkäse, Marmelade, ein aufgeschlagenes Päckchen Schinken, es fanden sich eine Pfanne mit Spiegeleiern dort, Nutella, Cornflakes, alles durcheinander, auch Mettwurst und vor allem ein Kuchen aus dem Edeka, wie wir ihn normalerweise nicht aßen, ein feuchtes, süßliches Zeug.
    Bedächtig, aber nicht langsam beendete John gerade eine Schüssel Cornflakes und nahm dann die Pfanne mit den Spiegeleiern. Es war ein stetes, ununterbrochenes, konzentriertes Weiteressen. Der Esser sah aus wie ein fahler, US-amerikanischer Buddha, es fehlte allerdings jedes Lächeln.
    Am Folgetag traf ich ihn in der großen Pause auf dem Hof meiner Friedberger Gesamtschule auf der Seewiese. Als ich ihn sah, aß er gerade. Er hatte sich eine Rindswurst und ein Brötchen geholt, eine Packung Manner-Kekse und zwei Becher Kakao, die man mit Strohhalm trank. Er grüßte mich sehr freundlich, konnte aber meinen Vornamen nicht aussprechen. Vielleicht kannte er ihn gar nicht. Er konnte übrigens nur ein paar Brocken Deutsch, eigentlich wußte er gar nichts. In Amerika hatte er die Sprache nicht gelernt.
    In wenigen Wochen würde mich John Andreas nennen, glasklar und

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